Nachbarschaftshilfe: gemeinsam statt einsam

Hilfe unter Nachbarn: Was einst selbstverständlich war, ist inzwischen die Ausnahme. Das Bedürfnis nach Austausch, Unterstützung und Zusammenhalt ist aber nach wie vor da. Nur die Rahmenbedin­gungen sind heute andere. Vorhang auf für die organisierte Nachbarschaftshilfe.

Wie gut kennen Sie Ihre Nachbarn? Pflegen Sie einen regen Austausch, unterstützen Sie sich gegenseitig, und verlassen Sie sich aufeinander? Würden Sie es sich wünschen? Der gesellschaftliche Wandel hat einen zentralen Einfluss auf das nachbarschaftliche Zusammenleben. Wir alle sind mobiler geworden, durch Job und Freizeitgestaltung nur selten zu Hause. Kaum jemand bleibt ein Leben lang am selben Ort. Dass sich Hausbewohner, geschweige denn Quartieranwohner, gegenseitig kennen, ist nicht mehr selbstverständlich. Die soziale Verankerung wackelt. Gestützt wird sie neu vielerorts durch lokale Nachbarschaftsinitiativen.

Wieso Nachbarschaftshilfe?

Manche haben etwas anzubieten, andere brauchen etwas – seien es Zeit, Gesellschaft oder praktische Hilfeleistungen. Aus diesen Ausgangs­voraussetzungen können bereichernde Begegnungen entstehen, von denen beide Seiten profitieren. Was daraus ebenfalls entstehen kann, ist eine lebendige Nachbarschaft. Die nach­bar­schaftliche Zusammenführung ist heute jedoch auf Unterstützung von aussen angewiesen. Zu anonym lebt es sich, zu selten traut man sich, um Hilfe zu bitten. Und diejenigen, die ihre Fähigkeiten und ihre Zeit anderen zur Verfügung stellen möchten, wissen oft nicht, wer es gebrauchen könnte. Genau hier setzt die organisierte Nachbar­schafts­hilfe an. Als vermittelnde Anlaufstelle im Quartier oder in der Gemeinde sorgen gemeinnützige Vereine und lokale Initiativen für eine Vernetzung von Nachbarinnen und Nachbarn. Mitmachen kann und soll jeder, der Freude an der Begegnung mit Menschen hat – unabhängig von Alter, Geschlecht, beruflichem und sozialem Hintergrund.

Alltag und Herausforderungen gemeinsam meistern

Schon mit kleinen Hilfestellungen im Alltag lässt sich die Lebensqualität erheblich verbessern, so der Leitgedanke lokaler Nachbar­schafts­netz­werke. Für Eltern, die zwischen beruflicher und familiärer Belastung kaum mehr Zeit zur Erholung haben, kann die Nachbarschaftshilfe als Erweiterung ihres Ressourcen-Netzwerks dienen. Auch für Senioren, bei denen es immer wieder zu Situationen kommt, die professionelle Pflegedienste nicht abdecken können, sind solche Initiativen eine wertvolle Ergänzung. Aufgrund der Digitalisierung gelingt es Nach­bar­schaft­netz­werken zudem, eine Brücke zur jungen Generation zu schlagen, deren Wissen und Kompetenzen hier besonders gefragt sind. Doch nicht nur zwischen den Generationen entstehen anregende Begegnungen, auch im Hinblick auf das Zusammenbringen unterschied­licher Kulturen ergeben sich positive Synergien. Vor allem für Neu­zu­gezogene aus dem Ausland bietet das nachbarschaft­liche Engagement eine Möglichkeit, Anschluss zu finden und sich in eine lokale Gemeinschaft zu integrieren.

Wo ein engagierter Nachbar ist, da ist auch ein Weg

Die Bandbreite der Dienstleistungen und Einsatzmöglichkeiten ist thematisch offen und gerade deshalb beachtlich. Brauchen Sie zum Beispiel Unterstützung beim Ausfüllen der Steuererklärung, beim Schrankaufbau oder Rasenmähen? Ihr Kind benötigt Nachhilfe oder muss aus der Kita geholt werden? Sie haben niemanden, der während eines Spitalaufenthalts Ihre Blumen giessen, die Katze füttern und den Briefkasten leeren kann? Ihr Velo ist kaputt, und Ihr Computer macht Probleme? In der näheren Umgebung gibt es gewiss jemanden, der sich genau damit auskennt und Ihnen gerne zur Hand geht. Oder wünschen Sie sich, dass jemand mit Ihnen spazieren geht, Sie zu einem kulturellen Anlass begleitet, gemeinsam mit Ihnen einen Behördengang oder den Wocheneinkauf erledigt? Jemand in Ihrer Nähe würde sich ebenso wie Sie über Gesellschaft beim Kaffeetrinken freuen, darüber, gemeinsam zu kochen, zu plaudern oder zu jassen. Je mehr und je unterschiedlicher die Leute, die bei einer Nachbarschaftsinitiative mitmachen, desto vielseitiger die Palette, aus der geschöpft werden kann.

«Mitmachen kann und soll jeder, der Freude an der Begegnung mit Menschen hat.»

Freiwillig oder im Tauschmodell

Der eigene Antrieb der Helferinnen und Helfer ist ein entscheidender Aspekt der Nachbarschaftshilfe. In der Regel gibt es keine finanzielle Entschädigung, der Einsatz ist freiwillig und basiert darauf, dass das Engagement als sinnstiftend empfunden wird. Das, was man gut und gerne tut, kann anderen zugänglich gemacht werden. Im Gegenzug kann man auf Hilfe anderer zählen, wenn man sie selbst braucht. Die freiwilligen Helfer werden nach einem Abklärungsgespräch mit Koordinatorinnen und Koordinatoren der Nachbarschaftshilfe an Personen mit Unterstützungsbedarf im Quartier vermittelt. Der Einsatz der Nachbarschaftshelfer kann sporadisch oder regelmässig erfolgen, die Spesen für Fahrten, Eintritte, Materialien, Ersatzteile & Co. werden vergütet. Andere Modelle basieren auf einem Tauschprinzip mit Zeitgutschriften. Jede Person, die sich engagiert, erhält von derjenigen Person, die Unterstützung bekommen hat, eine Gutschrift für die investierte Zeit. Von dem gesammelten Zeitguthaben lassen sich nun Hilfeleistungen für sich selbst beziehen. Alle Leistungen sind gleichwertig: Eine Stunde Gitarrenunterricht ist genauso viel wert wie eine Stunde Schneeräumen. Zur Vereinfachung des Zueinanderfindens zwischen Mitgliedern sind online die aktuellen Anfragen und Angebote aufgeschaltet. Getauscht werden können nicht nur Dienstleistungen, Wissen und Können, sondern je nach Initiative auch Dinge wie Secondhandwaren, Werkzeuge oder selbstgemachte Köstlichkeiten.

Digitale Nachbarschaftshilfe: Apps und Onlineportale

Wenngleich sich Digitalisierung und Nachbarschaftshilfe auf den ersten Blick auszuschliessen scheinen, haben Online-Angebote im digitalen Zeitalter besonders bei der jungen Zielgruppe das Potenzial, zu verbinden. Diverse Apps vernetzen ihre Nutzer mit anderen digital­affinen Personen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Mit wenigen Klicks gelangen Interessierte so zum passenden Einsatz oder zur benötigten Unterstützung. Aber nicht nur: Vielfach dienen Nach­bar­schafts-Apps und Webportale – ähnlich wie Facebook – der Vernetzung aufgrund gemeinsamer Inte­ressen. Oder damit vielbeschäftigte Grossstädter überhaupt erfahren: Wer sind meine Nachbarn eigentlich?

fiveup.org

Die App bringt helfende Hände zur richtigen Zeit an den richtigen Ort. Privatpersonen, Vereine und Organisationen können sich mit Freiwilligen vernetzen und Unterstützung organisieren. Menschen, die sich engagieren möchten, finden passende Aktivi­täten in ihrer Region. Und die­jenigen, die Freiwillige für Sport­­events, Kulturprojekte oder Begleitdienste suchen, finden passende Helfer.

fiveup.org

Quelle: Five up

crossiety.ch

Der digitale Dorfplatz von Crossiety verbindet als soziales und lokales Netzwerk Menschen, Vereine, Gemeinden, Schulen und Unternehmen. Rund 50 Schweizer Gemeinden sind bis dato dabei. Die Nutzer gestalten die interaktive Plattform, indem sie eigene Gruppen gründen, Anliegen und Informationen teilen, auf Veranstaltungen hinweisen, Umfragen starten oder lokale Tauschgeschäfte abwickeln.

crossiety.ch

Quelle: Crossiety, Adrian Bauer

fuerenand.ch

Die Generationen-Plattform vernetzt Menschen in der unmittel­baren Umgebung. Mit­glieder können Nachbarn lokalisieren, er­fahren, was in ihrer Wohnregion läuft, Aktivitäten organisieren oder daran teilnehmen, im elek­tronischen Marktplatz Sachen verschenken, tauschen oder verkaufen, Umfragen unter Nachbarn durchführen oder erfahren, welches lokale Gewerbe was anbietet.

fuerenand.ch

Quelle: Belvita Schweiz AG

zeitgut-zuerich.ch

und zeitgut.org Unterstützung für andere leisten, Zeitgutschrift erhalten – Unterstützung bekommen, mit Zeit vom persönlichen Zeitkonto vergüten: Nach diesem Tauschprinzip funktionieren die Onlineplattformen Zeitgut in Zürich und Luzern.

zeitgut-zuerich.ch

Quelle: Five up

tauschenamfluss.ch

Rund um die Zürcher Limmat und Umgebung werden Dienstleistungen, Wissen und Können, Selbstproduziertes und Secondhand­waren getauscht. Tauschwert ist die Verrechnungseinheit Zeit. Alle Leistungen sind gleichwertig, und jede Person hat ein digitales Zeitkonto mit einer Flexibilität von 30 Plus- und Minusstunden.

tauschenamfluss.ch

Quelle: Stiftung Zürcher Gemeinschaftszentren

Krisen bringen uns einander näher

Ob digital oder analog: Geben und nehmen, Zeit schenken, sich austauschen, andere begleiten und Mitmenschen mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und Fähigkeiten unterstützen – das lässt uns nicht nur in der Nachbarschaft, sondern auch als Gesellschaft zusammenrücken. Besonders in Zeiten wie der Corona-Krise, wenn unser Alltag plötzlich komplett auf den Kopf gestellt wird, ist eine Welle der Solidarität zu beobachten. Die gemeinsame Bewältigung der Krise rückt ins Zentrum des sozialen Bewusstseins. Zusammenhalt und gegenseitige Hilfe werden zur Normalität.

Die zahlreichen musikalischen Balkondarbietungen, die durch die sozialen Medien gingen und es einem so richtig warm ums Herz werden liessen. Oder die Aushänge in den Hausfluren mit dem Angebot, für betagte Nachbarinnen und Nachbarn in Quarantäne einkaufen zu gehen oder sie anderwei­tig zu unterstützen. Das alles zeigt: Gemeinsam ist es einfacher. Und schöner. Zu hoffen ist, dass auch nach der Rückkehr zur Nor­malität unser Alltag ein anderer bleibt. Einer, in dem Nachbarn stärker aufeinander eingehen und sich wieder mehr umeinander kümmern.

Die Corona-Krise hat Nachbarschaft neu definiert. So haben Balkonkonzerte in verschiedenen Ländern für Leichtigkeit im Alltag gesorgt.
Foto: Jörg Halisch

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