Zuhause ist überall

Bedingt durch globale Megatrends, findet derzeit ein Wohnwandel statt. In Zukunft sind vermehrt Konzepte gefragt, die flexibel auf die Vielzahl individueller Lebensentwürfe reagieren können. Coliving Spaces sind eine der Antworten auf diese veränderten Bedürfnisse.

Unsere Gesellschaft ist zunehmend mobiler. Es gehört zum Selbstverständnis unserer Zeit, unterwegs zu sein. Stephan Rammler, wissenschaftlicher Direktor des IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin – befasst sich mit dieser wachsenden Mobilität. Die Ursachen ortet er unter anderem im Zusammenwirken von global wirksamen Megatrends wie Digitalisierung, Individualisierung, Urbanisierung und demografischem Wandel. So wird heute beispielsweise der Anspruch an ein selbstbestimmtes, sinnstiftendes und erfüllendes Leben insbesondere von den jüngeren Generationen stärker eingefordert als bei den Generationen 50+. Der Lebensentwurf einer zunehmenden Anzahl Menschen folgt nicht mehr den gängigen Rollenmodellen, sondern ist stark von der Möglichkeit geprägt, selber wählen zu können und sich nötigenfalls innert kürzester Zeit ans entgegengesetzte Ende der Welt zu bewegen. Moderne Kommunikationstechnologien erlauben uns, von überallher virtuell mit dem Rest der Welt verbunden zu sein. Im Kontext dieser veränderten Rahmenbedingungen sind neue architektonische Konzepte für innovative Wohnformen gefragt, die dem Bedürfnis nach individuellem und temporärem Wohnen gerecht werden.

Flexibel und unabhängig, aber in der Community

Obwohl die Mehrheit der Menschen nach wie vor ein festes Zuhause und die klassische Büroarbeit bevorzugt, steigt die Anzahl derer, die sich zumindest während einer bestimmten Lebensphase für einen nomadischen Lebensstil entschieden haben. «Es braucht künftig mehr flexible Wohnformen, die dem nomadischen Dasein und dem schnellen Wechsel des Wohnorts gerecht werden können», hält Stephan Rammler fest und verweist auf die enge Verknüpfung von Wohnen, Arbeiten und Mobilität. Da Besitz für Neonomaden eher Hindernis als Statussymbol ist, steigt die Affinität für Sharing Economies. An diese Idee knüpfen sogenannte Coliving-Konzepte an. In Metropolen wie New York, San Francisco oder Berlin hat sich diese Wohnform bereits etabliert. Aber nicht nur in urbanen Zentren boomen solche Wohnen-auf-Zeit-Angebote, auch entlegene Orte ziehen zunehmend ortsungebundene Menschen an. Ob Stadt, Strand oder Skigebiet – die Umgebung soll inspirieren und Menschen zusammenbringen. Mit möblierten Zimmern oder Studios richten sich die Anbieter an ein Publikum, das sich lieber mit Gleichgesinnten austauschen will, statt sich alleine an einem anonymen Ort niederzulassen. In der Miete sind Dienstleistungen eingeschlossen, wie man sie in Hotels kennt: Reinigungsservice, das Wechseln der Bettwäsche oder eine rund um die Uhr besetzte Rezeption. Gemeinschaftlich genutzte Räume wie etwa Grossküche, Lobby, Büros und Fitnessstudio, aber auch Events sollen das Entstehen einer Community fördern und Möglichkeiten für Networking und Wissenstransfer bieten. Wer Ruhe will, zieht sich in sein Mikroapartment zurück.

Auch wenn sich Coliving-Konzepte derzeit zunehmender Beliebtheit erfreuen, wirklich neu ist die Idee nicht. Bereits Mitte der 1990er Jahre setzte beispielsweise die Wohnbaugenossenschaft Karthago in Zürich auf gemeinschaftliches Wohnen. Und auch Clusterwohnungen, wie sie die Zürcher Architektin Vera Gloor realisiert hat, sind als Kreuzung zwischen Kleinwohnung und WG ein Vorläufer heutiger Coliving-Angebote.

In der inspirierenden Umgebung lassen sich Arbeiten und Ausspannen gut verbinden.
Foto: Outpost, Ubud

Das Dorf 4.0

Stephan Rammler weist aber auch auf eine weitere Tendenz hin: die Wiederentdeckung des Ruralen. Im Dorf 4.0 sieht er ein neues Modell ländlicher Siedlungen. Dieses zielt insbesondere auf Personen, die sich von ihrem Lebenszentrum aus virtuell mit der ganzen Welt verbinden wollen, ohne den Zwang des Pendelns auf sich zu nehmen. Rammler: «Diese neue Sesshaftigkeit wird möglich gemacht durch die globalisierte Dateninfrastruktur.»

Menschen, die der Stadt den Rücken kehren, schätzen die Nähe zur Natur, setzen auf einen hohen Grad an Selbstversorgung und nutzen zu einem grossen Teil die vorhandene Bausubstanz. Bevorzugte Orte finden sich laut dem Zukunftsforscher in 60 bis 90 Minuten Schnellzugsdistanz zu grösseren Städten.

Flexibel bauen

Geht man davon aus, dass bis 2050 rund zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben, ist klar, dass eine neue Dimension der Urbanisierung stattfinden wird. «Für die Zukunft braucht es vermehrt nachhaltige Quartiere mit einer klimaschonenden Verkehrsanbindung, die uns ermöglichen, unser Ziel innerhalb kurzer Zeit zu erreichen, ohne dabei mehr Mobilität zu generieren», sagt Rammler. Auch soll die Sharing Economy noch stärker in die Wohnwelt Einzug halten, und die Architektur muss vermehrt flexible Konzepte vorsehen, die andere Nutzungen ohne grossen Aufwand zulassen. Die klassischen, starren Grundrisse haben ausgedient. Rammler bringt diese Forderung auf eine ebenso einfache wie schlüssige Formel: «Wir sollten so stabil wie nötig bauen, aber gleichzeitig so flexibel und reversibel wie möglich.» Das sieht auch David Hossli, Vorsitzender der Geschäftsleitung der Alfred Müller AG, so: «Wir sind heute mit einer ausgeprägten Individualisierung und einer Pluralisierung der Lebensstile konfrontiert. Bei der Projektentwicklung und der Produktgestaltung müssen wir die vielfältigen Bedürfnisse unserer Kunden vor Augen haben. Konkret bedeutet das zum Beispiel, dass Wohnungen variabel und ihre Räume unterschiedlich nutzbar sein müssen. Und, ganz wichtig: Die Wohnumgebung muss diesen Anforderungen ebenfalls genügen.»

Politikwissenschaftler und Buchautor

Prof. Dr. Stephan Rammler ist wissenschaftlicher Direktor des IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung. Der Politikwissenschaftler ist Experte für eine nachhaltige, postfossile Mobilität. Mit Bezug auf diese Expertise berief ihn die Internationale Bauausstellung (IBA) Heidelberg im März 2019 in ihr Kuratorium. Stephan Rammler veröffentlichte die Bücher «Volk ohne Wagen» (2017) und «Schubumkehr» (2015). 2016 erhielt er den «ZEIT WISSEN»-Preis «Mut zur Nachhaltigkeit» in der Kategorie «Wissen».

TIEFENENTSPANNUNG INKLUSIVE:

Outpost, Ubud

Bali ist einer der Coworking-Hotspots der Welt. Manche erfolgreiche Startups hatten ihre Anfänge hier. Entsprechend gross ist auch das Angebot an temporären Wohnmöglichkeiten. Outpost in Ubud ist eines davon und bietet ideale Voraussetzungen für ein erfüllendes Arbeiten und Wohnen. Privatsphäre und Ruhe finden die Bewohnerinnen und Bewohner auf Zeit in grosszügigen und luxuriös ausgestatteten Villen und Studios im balinesischen Stil – jedes mit einem En-suite-Badezimmer sowie Reinigungsservice und Frühstück. Eine Lounge, eine Küche sowie ein Pool stehen zur gemeinschaftlichen Nutzung bereit. Als Mitglied im nur wenige Gehminuten entfernten Outpost Coworking kann man auch die dortige Infrastruktur mit zwei Pools und einer atemberaubenden Aussicht auf die tropische Vegetation entlang des nahen Flusses nutzen. Wem das noch nicht reicht für Tiefenentspannung, bucht einen Termin beim Hausmasseur, der das Leben im Paradies perfekt macht. Für unter 1000 Dollar pro Monat lebt und arbeitet es sich hier äusserst komfortabel – gute Work-Life-Balance inbegriffen. Outpost bietet auf Bali derzeit zwei Locations zum Wohnen an, im September kommt eine dritte dazu. Ausserdem gibt es einen Aussenposten in Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh.

DAS ORIGINAL:

The Collective Old Oak, London

Gut jeder fünfte Freelancer Grossbritanniens lebt in London, das ist fast eine halbe Million. Diese Zahl wird weiter steigen, da immer mehr Menschen flexibel leben und arbeiten möchten – dies nicht irgendwo, sondern an einem inspirierenden Ort. Die Initianten von The Collective London haben dieses Bedürfnis früh erkannt. Mit ihren zwei Coliving Spaces in London bereichern sie das Immobilienangebot in der britischen Hauptstadt. The Collective Old Oak im Westen Londons nimmt für sich in Anspruch, der «originale» Coliving Space zu sein. 2016 eröffnet, bietet er 705 möblierte Apartments in vier verschiedenen Kategorien, die Aufenthaltsdauer beträgt zwischen vier und zwölf Monaten. In Gemeinschaftsräumen wird zusammen mit den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern die freie Zeit verbracht, gekocht und in den Coworking Spaces gearbeitet. Wer nicht selber kochen mag, versorgt sich in einem der Restaurants. Auf der Dachterrasse finden Yoga-Kurse statt oder man sitzt abends zum Barbecue zusammen. Ein Spa mit Sauna, Massagen und anderen Behandlungen sorgt ebenso für Ausgleich wie der Kinosaal, die Fitnesskurse und die Kajaks, mit denen man über den vor der Haustüre liegenden Kanal paddeln kann. In der hauseigenen Bibliothek findet man Lesestoff, und regelmässig stattfindende Events bieten die Möglichkeiten zum Wissensaustausch. Im Juli haben die Betreiber von Old Oak einen neuen Standort im Canary Wharf in London eröffnet, und seit September 2019 stehen 125 Zimmer im Coliving Space Paper Factory in New York bereit für seine Bewohnerinnen und Bewohner.

FÜR STADTFLÜCHTLINGE:

Swiss Escape, Grimentz

«Stell dir vor, du wohnst mit Menschen zusammen, die dich täglich inspirieren, und du wachst jeden Morgen auf mit dem Alpenpanorama vor Augen.» Swiss Escape im beschaulichen Walliser Bergdorf Grimentz punktet nicht mit Grösse, sondern mit seiner Lage inmitten einer beeindruckenden Bergwelt. Wer hierher kommt, sucht nicht den Rummel der Grossstadt, sondern die Ruhe und die Möglichkeit für Outdoor-Aktivitäten wie Wandern, Biken oder Skifahren. Zwei Minuten Fussweg sind es bis zur Seilbahn, die einen auf den Berg bringt. In zwei Chalets kommen bis zu 15 Personen unter, jedes von ihnen ist ausgestattet mit Küche, Lounge und Skiraum. Zudem ist in jedem Haus ein offener Arbeitsbereich eingerichtet mit Highspeed-Internet, Drucker und einem Skype-Room für ruhige Gespräche. Doch nicht nur Einzelpersonen sind im Swiss Escape für kürzere oder längere Aufenthalte willkommen, das Angebot richtet sich explizit auch an Firmen, die einige Tage ausserhalb des Büros verbringen möchten, um die Kreativität zu fördern und das Team zu stärken.

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