«Ich will dem Publikum stets etwas Neues zeigen»

Mit 19 Jahren beschloss die Russin Anastasia Makeeva, Akrobatin zu werden. Obwohl diese Entscheidung spät fiel und ihr erster Lehrer ihr keine glanzvolle Karriere prophezeite, schaffte sie den Aufstieg zur Elite der Zirkusartisten – mit viel Mut, Leidenschaft, Durchhaltewillen und Unter­nehmergeist. Im Interview erzählt sie von ihrem Nomaden- und Künstlerleben in den Zirkusmanegen dieser Welt, von den Anfängen und auch vom bevorstehenden Ende ihrer aussergewöhnlichen Laufbahn.

Wir treffen die russische Artistin im Juli in Bern, rund zwei Stunden vor ihrem ersten Auftritt in der Bundeshauptstadt. Von den über 300 Auftritten im Jubiläumsjahr des 100-jährigen Schweizer National-Circus Knie in 33 Schweizer Städten hat sie ungefähr die Hälfte absolviert. Sofort begeistert uns Anastasia Makeeva mit ihrer freundlichen, unkomplizierten und offenen Art. Rasch wird klar: Wir haben es mit einer starken Persönlichkeit zu tun, die ihren beruflichen Traum verwirklicht hat und ihr Leben aktiv und bewusst gestaltet.

Anastasia – kannst du uns von den Anfängen deiner Karriere erzählen?

Ich war schon 19, als ich meine Laufbahn begann, deshalb war der Start härter als für jüngere Artisten. Mein Lehrer glaubte nicht an meinen Erfolg. Aber ich hatte viel Kraft, Hartnäckigkeit und Motivation – was sehr wichtig war, um trotz Schmerzen, Rückschlägen und Enttäuschungen voranzukommen. Es war meine eigene Entscheidung; niemand befahl mir, früh aufzustehen, hart zu trainieren, dieses und jenes zu tun.

Als Akrobatin im Zirkus lebt Anastasia Makeeva ein Künstler- und Nomadenleben zugleich.

«Mein Lehrer glaubte nicht an meinen Erfolg. Aber ich hatte viel Kraft, Hartnäckigkeit und Motivation.»

Wie konntest du so schnell erfolgreich werden?

Die ersten drei Jahre als Artistin waren schrecklich. Ich wusste nichts über dieses Business. Um Erfahrungen zu sammeln, begann ich bei einem sehr einfachen Zirkus zu arbeiten. Ich realisierte schnell, dass ich Unterstützung brauchte, und ging in die Ukraine, wo ich einige Jahre beim Nationalzirkus auftreten konnte. Dann begann ich, an internationalen Wettbewerben und Festivals teilzunehmen. Ich war nicht immer erfolgreich, aber durch diese Erfahrungen konnte ich mich als Artistin weiterentwickeln. Was mir auch half, war mein Unternehmergeist. Ich habe realisiert, dass ich mich von anderen Artisten unterscheiden und etwas Eigenes, Einzigartiges und Kreatives schaffen musste. An einem gewissen Punkt in der Karriere habe ich meinen Weg gefunden. Dann bekam ich die Chance, am Circus Festival in Monte Carlo aufzutreten. Dieses Festival hat für uns Artisten den gleichen Stellenwert wie die Oscar-Verleihung für Schauspieler oder die Olympiade für Athleten. Wenn man in Monte Carlo auftreten kann, bekommt man einen neuen Zugang zum Arbeitsmarkt – es ist wie ein Eliteclub für Zirkusartisten. Nach Monte Carlo wurde mein Artistenleben viel einfacher.

Was gefällt dir am besten an deinem Leben als Zirkusartistin?

Das ist ganz klar die Möglichkeit, rund um die Welt zu reisen, verschiedene Kulturen kennenzulernen, neue Orte und wunderschöne Landschaften zu entdecken, die schönsten Städte und Museen der Welt zu besuchen. Mein Traum war es immer, international zu arbeiten und verschiedene Engagements wahrzunehmen. In meiner 13-jährigen Laufbahn hatte ich Engagements in China, Japan, der Ukraine, in Frankreich, Italien, Deutschland und der Schweiz. Die Schweiz gefällt mir besonders, unter anderem wegen ihrer schönen Natur. Ich habe hier dieses Jahr viele wunderbare Wanderungen unternommen.

An meinem Beruf gefällt mir auch, dass ich viele Menschen kennenlernen kann. Ich habe in den letzten Jahren viele faszinierende Begegnungen erlebt.

Sie stand schon in China, Japan, der Ukraine, Frankreich, Deutschland und Italien in der Manege. Zuletzt war die Russin mit dem Circus Knie in der Schweiz unterwegs.

Wie würdest du deine Kunst definieren?

Ich mache eine spezielle Kunst, eine Art Gymnastik in der Luft. Begleitet von Musik, zeige ich riskante Tricks und choreografisch arrangierte Bewegungen. Es ist eine Art Tanz in der Luft, in grosser Höhe unter dem Chapiteau, live und ohne Absicherungen.

Wie kreierst du deine Show?

Ich versuche, für jedes Engagement etwas Neues zu kreieren. Mir ist es wichtig, dass ich mich stets weiterentwickle und dass ich dem Publikum etwas Neues zeigen kann. Ich arbeite auch gerne mit anderen Künstlern, zum Beispiel mit Sängern, DJs usw. Musik spielt eine wichtige Rolle bei meinen Auftritten, und es ist nicht einfach, etwas Passendes zu finden. Letztes Jahr konnte ich in China ein Lied einer sehr talentierten Sängerin aufzeichnen. Dieser Song gab mir eine spezielle Kraft und Inspiration, so dass ich mit meinem Auftritt das Publikum berühren konnte.

Eine wichtige Inspirationsquelle ist für mich auch die Kunst, die mir sehr am Herzen liegt. So basieren gewisse Elemente meiner aktuellen Show auf den Skulpturen des französischen Künstlers François-Auguste-René Rodin.

Willst du mit deiner Kunst etwas ausdrücken – zum Beispiel auch mit deinem Auftritt im Cirkus Knie?

Im Circus Knie zeige ich einen starken weiblichen Charakter, der sich vom Embryo zu einer starken Frau entwickelt. Der Act wird von Tango-Musik begleitet, weil sich damit Emotionen transportieren lassen. Er ist in schnelle, aber auch sehr lyrische, langsame Szenen unterteilt. Damit drücke ich aus, dass eine Frau trotz ihrer Stärke auch sanft sein kann, dass sie auf Probleme stossen kann und auch mal hinfällt und Fehler macht, dass sie aber immer wieder aufsteht und weitergeht. Mit diesem Auftritt teile ich meine innerste Überzeugung mit dem Publikum.

«Mir ist es wichtig, eine Basis zu haben, einen Platz, wo ich jederzeit hingehen kann, ein Zufluchtsort sozusagen.»

Als Zirkusartistin lebst du ein Nomadenleben – wie findest du dies?

Mir gefällt es, verschiedene Länder, Kulturen und Menschen kennenlernen zu können. Aber das Nomadenleben ist nicht etwas, was ich für immer tun möchte. Mir ist es wichtig, eine Basis zu haben, einen Platz, wo ich jederzeit hingehen kann, ein Zufluchtsort sozusagen.

Gibt es Gegenstände, die dir auf Tournee besonders wichtig sind?

Ja, das Internet, das Handy, das Auto und Kaffee. Das Auto ist wichtig, weil ich damit viel unternehmen kann.

Ist es wahr oder eher ein Klischee, dass die Mitarbeitenden im Zirkus eine Art Familie bilden?

Meistens stimmt das, denn es ist ein Grundprinzip im Zirkus, ein ungeschriebenes Gesetz, dass man einander vertrauen und sich aufeinander verlassen können muss. Wir müssen ein Team bilden und gemeinsam eine schöne Atmosphäre schaffen. Hier im Circus Knie ist es schön, alle sind sehr professionell und auch hilfsbereit. Während der achtmonatigen Tour ist die Atmosphäre sehr familiär, eng, aber auch offen. Alle sind sehr relaxed.

Was sind deine Zukunftspläne?

Ich werde meine artistische Laufbahn Ende Jahr abschliessen, um eine zweite Karriere aufzubauen. Ich möchte ein Studium zum Master of Business Administration absolvieren und habe mich an mehreren Universitäten beworben.

Warum gerade jetzt, wo du so erfolgreich bist?

Ich bin an der Spitze angekommen. Ich bin überzeugt, dass man genau an diesem Punkt die Kraft haben sollte, aufzuhören. Zudem glaube ich, dass ich noch mehr erreichen kann. Ich möchte Neues entdecken, und wer weiss, vielleicht kann ich meine artistischen Fähigkeiten auch in einer neuen Laufbahn in der Businesswelt einbringen.

Kommentieren und mitdiskutieren

Alle Antworten werden von unseren Moderatoren vor der Veröffentlichung geprüft. Ihre Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht und dient nur der Identifikation. Erfahren Sie dazu mehr in unseren Datenschutzbestimmungen.