«Die Mikrounternehmer sind meine Heroes»
Philipp Toth ist in einer brasilianischen Favela in São Paulo geboren, von deutschen Eltern adoptiert worden und in Deutschland aufgewachsen. Mit seiner Software «heymate – the digital handshake» will er den Mikrounternehmern in seiner alten Heimat und dem Rest der Welt ein Tool in die Hand geben, mit dem sie alle Tätigkeiten vor und nach einem Job über das Handy erledigen können. Wie das geht, erzählt er im Interview.
Ihr Startup hat den Sitz in den Crypto Valley Labs (CV Labs) in Zug. Wieso haben Sie sich für diesen Standort und dieses Angebot entschieden?
Der Boom des Crypto Valley ging ja erst vor vier bis fünf Jahren richtig los, nachdem sich die Stiftung Ethereum hier niedergelassen hatte. Die Sogwirkung war sehr gross, weltweit kamen Startups hierher, mittlerweile sind rund 600 im Crypto Valley angesiedelt, das ist eine immense Wachstumskurve.
Durch meine beruflichen Tätigkeiten bin ich viel in China, Lateinamerika und den USA unterwegs, besonders in den Megacitys, welche eine enorme Sogwirkung auf Menschen ausüben. Die Region Zug/Zürich gehört auch dazu, was besonders ist, weil sie ja nicht durch die Anzahl Menschen überzeugt, sondern eher durch den Innovationsgrad, durch die geballte Kompetenz und die inspirierende Stimmung. Und natürlich auch durch die gute Lebensqualität. Man kommt hierher und fühlt sich wohl.
CV Labs ist für junge Blockchain oder DLT Ventures als Firmenstandort sicherlich die Nummer eins hier in Europa und wahrscheinlich sogar weltweit. Ich schätze den Drive, den es hier gibt. Hier ist jeder Unternehmer. Es ist wirklich eine Art Ökosystem entstanden: Auf der Terrasse habe ich schon zwei, drei Investoren kennengelernt. Eine Zuger Anwaltskanzlei, spezialisiert auf Blockchain-Themen, ist regelmässig hier und bietet den Startups ihre Dienstleistungen an. Das gleiche gilt für die auf Crypto Assets spezialisierte Falcon Private Bank. Man trifft Gleichgesinnte, und es entstehen Partnerschaften, die ich in einem klassischen Büro nicht finden würde. Ich finde, dass es sehr viel Sinn macht für ein Immobilienunternehmen wie die Alfred Müller AG, in dieser Szene mit einem Angebot wie hier im LG-Areal beim Bahnhof Zug präsent zu sein.
Früher wurden Geschäfte oft per Handschlag besiegelt. Sie werben damit, dass mit heymate der Handschlag neu erfunden wird. Können Sie das erklären?
Die Freelance und Sharing Economy, auch Gig Economy genannt, leidet heute unter einer grossen Ineffizienz. Das war früher anders: Mit einem Handschlag war alles, was man vereinbart hatte, gültig. Simpel, einfach und weltweit vertraut: the good old handshake! Heute braucht man dazu Rechtsverständnis oder Anwälte, Banken oder Kreditkarten, Papierverträge und oft viele vertrauensbildende Treffen. Wir versuchen, mit unserer Lösung die Simplizität des Handschlags nachzubauen, wobei die Blockchain-Technologie ein hilfreiches Element ist. Mit einer solchen digitalen Lösung kann man das nötige Vertrauen herstellen – und eben auch die Simplizität von damals.
Und wie funktioniert das konkret?
Stellen Sie sich vor, wir hätten uns kennengelernt, egal wo, auf einer der unendlich vielen Plattformen wie Facebook Marketplace, tutti.ch, Craigslist oder Nextdoor. Was passiert jedoch, wenn Ihnen ein Produkt oder eine Dienstleistung gefällt, die ich anbiete? Bei der sogenannten Geschäftsanbahnung müssen wir uns zuerst kennenlernen, denn niemand will mit jemandem zusammenarbeiten, den er nicht einschätzen kann. Dann brauchen wir einen Vertrag, ich setzen ihn auf, schicke Ihnen diesen per E-Mail zu, Sie unterschreiben und scannen ihn und schicken ihn mir anschliessend zurück. Das kann man heute mit den vorhandenen Technologien viel effizienter gestalten. Auch wenn dann unser vereinbarter Handel oder Job ausgeführt ist, geht das inneffiziente Elend weiter: Zeitaufwendig wird eine Rechnung erstellt und per E-Mail verschickt. Anschliessend prüft jeder sein E-Banking, ob die Zahlungen auch richtig ausgeführt wurden. Auch diese «Post-Deal»-typischen administrativen Abläufe können technologisch voll automatisiert werden, so dass sich unsere Mikrounternehmer vollständig auf das tatsächlich «bezahlte Arbeiten» konzentrieren können. Mehr bezahltes Arbeiten erhöht den durchschnittlichen Stundenlohn – weniger unbezahlte Geschäftsanbahnungs- und Geschäftsabwicklungstätigkeiten erlauben mehr Zeit für Familie und Freunde!
Was ist der grösste Nutzen von heymate?
Mit heymate können die Mikrounternehmer die grossen Medienbrüche vermeiden. Ineffiziente Aktivitäten am Telefon, Scanner, E-Mail – das braucht es nicht mehr, auch keine Papierverträge, Banken, Anwälte oder persönliche Treffen. Man hat alles auf dem Handy und kann sich auf die Tätigkeiten des wirklichen Einkommenserwerbs konzentrieren!
Ist das denn sicher?
Ja, dank neuster Blockchain-Technologien können weltweit alle Mikrounternehmer und ihre Kunden ohne Vermittler direkt in die Vertragsgestaltung von einfachen, digitalen Verträgen für: a) On-Demand Freelancing wie Gartenarbeit, Baby- oder Dog Sitting, für b) kurzfristige Vermietungen von Gegenständen wie das freie WG-Zimmer, der ungenutzte Rasenmäher oder c) den Verkauf von Gegenständen wie das gebrauchte Auto oder Fahrrad oder die selbstgemachten Torten einsteigen. Das Gleiche gilt für die Abwicklung von vertraglich vereinbarten Zahlungen wie Vorabzahlungen, Escrow-Lösungen und abschliessende Endüberweisungen. Das ist erst heute möglich, da die Blockchain Lösungen anbietet, die das Vertrauen, aber auch die Sicherheit herstellen, welche früher der «vertrauensstellende Mittelsmann», beispielsweise der Anwalt oder die Bank, geliefert hat.
Wer soll Ihr Produkt nutzen?
Unsere Zielgruppe sind die Mikrounternehmer. Mit heymate wollen wir ihnen ein Tool in die Hand geben, welches sie darin unterstützt, das zu tun, weshalb sie Unternehmerinnen und Unternehmer geworden sind: mit ihren Talenten, Erfahrungen und Vermögensgegenständen ein nachhaltiges Einkommen zu verdienen. Sie können die Geschäftsanbahnung und -administration effizient abwickeln und haben mehr Zeit für bezahlte Arbeit oder für ihre Freizeit.
«Ich glaube, dass es an der Zeit ist, sich auf die weltweit am inneffizientesten genutzte Ressource zu konzentrieren: den Menschen mit seinen unternehmerischen Fähigkeiten und Talenten!»
Nachdem Firmen wie Uber und Airbnb es uns allen ermöglichen, Autos und Wohnungen effizienter zu nutzen, glauben wir – ich und mein Gründungspartner Frank Herrmann –, dass es an der Zeit ist, sich auf die weltweit am inneffizientesten genutzte Ressource zu konzentrieren: den Menschen mit seinen unternehmerischen Fähigkeiten und Talenten!
Ist das Produkt schon auf dem Markt?
Nach sechs bis sieben Monaten Entwicklungszeit sind wir im Sommer in die Pilotphase eingetreten. Wir haben unser Produkt mit den ersten Kunden getestet, die uns regelmässig Feedback geben: Was muss geändert werden, was wünschen sie sich, was passt ihnen nicht? Mit diesen Early Adopters arbeiten wir so lange, bis sie sagen: «Mein Leben geht nicht mehr ohne heymate!» Denn wenn sie dies sagen, kann ich davon ausgehen, dass auch andere Mikrounternehmer das Produkt mögen. Ist die Pilotphase abgeschlossen, starten wir nächstes Jahr den internationalen Rollout, indem wir unsere API-integrierten Vertrags- und Zahlungslösungen allen Mikrounternehmern auf Facebook Marketplace, Craigslist & Co. weltweit zur Verfügung stellen.
Wann wollen Sie soweit sein?
Ich hoffe, dass wir Ende 2019 im Markt sind und die ersten wiederkehrenden Kundenumsätze erzielen. Momentan ist es mein Ziel, über intensive Kundentests, sogenannte Design Thinking Sprints, die ersten 100 «heymate Lover» aufzubauen – Menschen, die nicht mehr ohne unser Produkt arbeiten möchten. Denn ich habe lieber 100 Nutzer, die sagen: «Es geht nicht mehr ohne heymate», als eine Million, welche heymate «nur okay» finden. Diese 100 werden mein Produkt weiterempfehlen, wiederkommen und es regelmässig nutzen. Die anderen sind heute da und morgen wieder weg: Ein Okay reicht mir nicht!
«Mein Ziel ist es, dass in Zukunft jeder Mensch heymate nutzt, um seine Talente und Erfahrungen unternehmerisch und effizient zu monetarisieren.»
Abonnieren die Kunden Ihr Produkt?
Nein, es ist eine App, bei der man nur dann eine kleine Gebühr zahlt, wenn man sie nutzt. Wir wollen Mikrounternehmer entlasten, so dass sie über unser Produkt die gesamten geschäftsanbahnenden und anschliessenden administrativen Tätigkeiten effizient und zeitschonend abwickeln können. Ihre Kunden zahlen über ein sogenanntes Bundled Pricing eine geringe Transaktionsgebühr.
Gleichzeit werden in Zukunft den Nutzern von heymate über integrierte Drittanbieter massgenschneiderte Gig-Economy-Produkte angeboten: kurzfristige Versicherungen für Arbeit, Equipment, Schäden und Verdienstausfall, ebenso Mikrokredite für ihre unternehmerischen Expansionen, aber auch vergünstigte Arbeitsgeräte.
Eine Gig Economy Academy unterstützt die Mikrounternehmern mit lukrativen Geschäftsideen und dem Erfahrungsaustausch unter Gleichgesinnten. Was hier in Zürich gut funktioniert, passt vielleicht auch gut zu Mumbai, São Paulo oder Kapstadt. Unsere Mikrounternehmer konkurrieren nicht untereinander, da sie alle mit ihren Aktivitäten in lokalen Mikromärkten agieren und deshalb ohne die eigene Kannibalisierung weltweit andere Mikrounternehmer befruchten können!
Früher hätte man ein solches Produkt im stillen Kämmerlein entwickelt. Heute scheint dies anders zu sein.
Ja, ich habe dies auch noch so erlebt: Man hat keinem was erzählt und in der Hoffnung entwickelt, dass man mit dem perfekten Produkt auf den Markt kommt. Das kann funktionieren, aber es kann auch so richtig in die Hosen gehen, weil man gar nicht weiss, was der Kunde möchte. Moderne Produktentwicklung ist deutlich anders aufgestellt. Da geht man so früh wie möglich raus und spricht so viel wie möglich mit den Menschen und holt sich Feedback rein. Ich arbeite ganz eng mit dem Nutzer, er entwickelt eigentlich das Produkt für mich. Ich versuche dann, die Schnittmenge der Bedürfnisse und Wünsche aller Nutzer zu finden – das wäre dann das Produkt, das hoffentlich viele Kunden zu den erwähnten heymate Lovers macht.
Wie ist die Geschäftsidee entstanden?
Es gab mehrere Erlebnisse, die mich dazu inspiriert haben. Einmal kam ich sonntags in São Paolo an und hatte am Montag früh diverse Meetings. Ich musste aber noch Hemden waschen und bügeln lassen. Alle Waschsalons waren zu. Ich fragte mich, warum ich denn warten sollte, bis der Waschsalon wieder öffnet, und klingelte in der Nachbarschaft an verschiedenen Wohnungstüren. Ich wusste, dass da Waschmaschinen stehen, und stellte fest, dass alle froh waren, mir gegen eine kleine Gebühr innerhalb von vier Stunden meine Wäsche zu waschen. Da habe ich gemerkt: Es gibt den Bedarf für dieses Peer-to-Peer-Geschäft. Die Hausfrauen, die ich gefragt habe, sind sogar fast in einen Bieterwettbewerb eingetreten. Dieses Beispiel zeigt, dass es Mikromärkte gibt, und ich bin überzeugt, dass ihre wirtschaftliche Bedeutung weltweit zunehmen wird.
Warum sind Ihnen die Mikrounternehmer so wichtig?
Ich wurde in einer brasilianischen Favela geboren und hatte die Riesenchance, von deutschen Eltern adoptiert zu werden und in Deutschland aufzuwachsen. Die meisten Menschen in den Favelas bekommen niemals diese Chance. Gerade in Favelas gibt es viele Menschen, die zwar keine Ausbildung haben, aber viele Talente. Die haben es schwer, im klassischen Arbeitsmarkt Fuss zu fassen, aber sie sind die perfekten Freelancer! Oft können sie aber keinen Vertrag schreiben, haben weder ein Bankkonto noch eine Kreditkarte. Wenn man ihnen die Möglichkeiten bietet, dass sie mit ihren Talenten und Erfahrungen ein Kleinunternehmer-Einkommen generieren können, dann hilft man dort, wo es am notwendigsten ist.
Dasselbe gilt für Flüchtlingscamps. Dort sitzen Menschen auf engstem Raum, es gibt keinen Supermarkt und keine Firma, aber jeder kann etwas und jeder braucht etwas. Da geht es darum, diese Situation mit rechtlichen Institutionen wie Verträgen stabiler zu machen, aber auch Transaktionen zu ermöglichen. In einem Flüchtlingscamp gibt es meistens kein Bargeld und keine Geldautomaten, da braucht es andere Möglichkeiten. Da ist heymate super: heymate funktioniert nicht nur hier in Zürich, sondern ist weltweit einsetzbar. Mein Ziel ist es, so viele Mikrounternehmer zu erreichen wie möglich. Im Idealfall nutzt in Zukunft jeder Mensch heymate, um seine Talente und Erfahrungen unternehmerisch und effizient zu monetarisieren.
Konnten Sie mit heymate einen Traum verwirklichen?
Mein Traum war immer das Unternehmertum. Ich habe viele Jahre in Private Equity investiert, war Investmentbanker und Unternehmensberater. Dies hat mir Spass gemacht, und ich konnte alles lernen, was ich heute an Erfahrung für einen Unternehmensaufbau brauche. Nun habe ich das grosse Glück, mit einem nachgefragten Produkt und dem richtigen Team zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein.
Ich stelle fest, dass ich als Unternehmer noch viel härter arbeite als früher. Aber es ist ein riesiger Unterschied, ob man etwas für sich macht, etwas, das man sich selber ausgesucht hat und das einen weiterbringt, oder ob man in einer grossen Firma nur den Status quo administriert. Es ist intrinsisch – ich merke gar nicht, dass ich arbeite. Ich mache das, was sich viele wünschen, was aber wenige umsetzen, weil ihnen der Mut, die Chance oder auch die Idee fehlen. Ich habe über Erlebnisse wie jenes mit der Wäsche in Brasilien die Vision entwickelt, einen Markt entdeckt und diesen analysiert. Nun mache ich das Beste daraus.
Haben Sie noch eine Beziehung zur Favela?
Ich habe noch eine sehr enge Beziehung zu der Favela, in der ich geboren wurde. Ich habe dort früher als Entwicklungshelfer gearbeitet und erfahren, was ich für eine Riesenchance erhalten habe. Damals habe ich gedacht, dass ich etwas entwickeln möchte, mit dem ich nicht nur mir einen Gefallen tue, sondern auch anderen Menschen, die weniger Glück hatten im Leben als ich. Die Mikrounternehmer, die mit talentgetriebenen Dienstleistungen Geld verdienen, sind meine Heroes und erhalten meine Unterstützung!
Ich war einmal mit einem Uber-Fahrer unterwegs, der erzählte, dass er extrem gut singen könne. Ich ermunterte ihn, doch etwas aus seinem Talent zu machen. Kurze Zeit später traf ich ihn nochmals. Er hatte sich bereits als Sänger auf privaten Geburtstagspartys engagieren lassen und konnte 100 oder 200 Franken pro Anlass verdienen, viel mehr als zuvor in seiner Rolle als «talentfreier» Uber-Fahrer.
Leider sind die meisten Menschen heute immer noch in feste Jobbeschreibungen eingebunden: Du lieferst jetzt Essen aus oder fährst Menschen von A nach B. Das ist nicht die Verwirklichung von Talent. Dabei hat jeder Mensch Talente und besondere Erfahrungen, mit denen er vielleicht sogar mehr Geld verdienen könnte als mit einem herkömmlichen Job. Und auf jeden Fall bringt es mehr Spass und Lebensqualität, wenn man mit dem Geld verdient, was man gerne macht und gut kann. Und das ist für mich der ganz grosse Treiber der Freelance und Sharing Economy. Menschen konzentrieren sich auf das, was sie am besten können, und versuchen, da noch besser zu werden, anstatt etwas zu tun, das «nur okay» ist.