Der Aufstieg des Ich

Individualisierung ist ein Megatrend unserer Zeit. So viel ICH wie heute gab es noch nie. Dieses Phänomen verändert unsere Lebenswelten im privaten und im beruflichen Bereich nachhaltig – positiv wie negativ.

Klein, medium, gross, mit Koffein oder ohne, Arabica oder Robusta, reguläre Milch, Bio oder fettreduziert, laktosefrei, mit Hafer-, Soja- oder Mandelmilch, kalt oder warm, geschäumt oder nicht, mit Zucker, Stevia, Süssstoff oder ungesüsst, Haselnuss-, Vanille- oder Karamell-Aroma dazu? Im Zeitalter der Individualisierung erfordert schon der morgendliche Kaffee so viele individuelle Entscheidungen, wie einst an einem gesamten Tag notwendig waren, wenn überhaupt.

Individualisierung ist einer der dominierenden Megatrends unserer Zeit. Es ist ein Prozess, in dem der Einzelne zunehmend wichtiger wird. Wir können heute wählen, wie wir leben wollen und wo, wen wir lieben, welchen Bildungs- und Berufsweg wir einschlagen, wie wir unsere Freizeit verbringen, wie wir uns präsentieren, ob wir in einer Beziehung sein möchten, eine Familie gründen wollen – oder eben nicht. Die Zunahme persönlicher Wahlfreiheiten, von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung führt zu einer massiven Ausdifferenzierung von Lebensstilen, Familienkonstellationen, Konsummustern, Arbeitsmodellen und Wohnformen.

Der Individualismus-Trend ist längst auch in der Wohnwelt angekommen. Im Fokus stehen per­sön­liche Freiheit, Flexi­bilität und individuelle Entfaltungsmöglichkeiten. Foto Getty Images / Nick Dolding

Woher kommt der Wunsch nach Individualität?

Der Begriff Individualität leitet sich vom lateinischen «individuus» ab, was unteilbar oder untrennbar bedeutet. Individualität ist die Summe aller Merkmale, die eine Person von anderen Menschen unterscheidet. Menschen streben nach Individualität – manche mehr, manche weniger. Doch wieso ist uns Einzigartigkeit überhaupt so wichtig?

Im Kern geht es um das Streben des Menschen nach Autonomie und Selbstbestimmung. Wie uns die Geschichte zeigt, scheint der Wunsch nach Freiheit im menschlichen Wesen verankert zu sein. Aufklärung, Französische und industrielle Revolution: Der Kampf um persönliche Freiheit, politische Mitbestimmung und ein Leben in finanzieller Unabhängigkeit trug zum Loslösen von einst auferlegten Zwängen bei und bereitete den Weg zur Verwirklichung des eigenen Selbst. Historisch und kulturell bedingt breitete sich der Individualismus hauptsächlich in der westlichen Welt aus. Damit nimmt der Westen eine Sonderposition im Vergleich zu anderen, eher kollektivistisch ausgerichteten Kulturkreisen ein (siehe Infobox).

Die moderne Wohlstandsgesellschaft

Dass Menschen dem Wert der Individualität im Laufe der Zeit eine immer grössere Bedeutung beigemessen haben, hängt mit dem allgemeinen Wohlstandszuwachs der modernen Gesellschaft zusammen. Im Zuge der Industrialisierung und der Reformen der Nachkriegszeit, vor allem aber seit den 1960er-Jahren ermöglichte der höhere Wohlstand den Menschen ganz neue Optionen in Bezug auf ihre persönliche Lebensführung. In den letzten Jahrzehnten haben sich durch die Globalisierung, die Digitalisierung und nicht zuletzt durch den weiteren Wohlstandszuwachs die Möglichkeiten zur Selbst­­entfaltung vervielfacht. In allen entwickelten Wohlstands­gesellschaften setzt sich die «Kultur der Wahl» durch, konstatiert das Zukunftsinstitut. Ein Blick auf die allseits bekannte Maslowsche Bedürfnishierarchie zeigt schnell, weshalb das so ist. Die unteren Bedürfnisse – physiologische, sicherheitsrelevante und soziale – sind in den meisten westlichen Ländern längst erreicht. Mit der bestehenden Existenzgrundsicherung kommen die letzten beiden Stufen der Bedürfnispyramide ins Spiel: die Individualbedürfnisse und die Selbstverwirklichung. Der Mensch begibt sich auf die Suche nach «mehr».

«Wie fällt man auf in einer Welt voller Indi­vidualisten?»

Die andere Seite der «Individualitätsmedaille»

Die Lebensgestaltung nach den eigenen, persönlichen Vorstellungen ist eine Errungenschaft, keine Frage. Gleichzeitig bedingt dieser Freiraum, dass immer mehr Lebensentscheidungen autonom getroffen werden müssen. Wo früher Institutionen wie Kirche, Familie, Dorfgemeinschaft, Staat und traditionelle Rollenbilder dem Individuum Orientierungs- und Entscheidungshilfen boten, hat man heute eine fast unendliche Auswahl an Optionen. Wer alles selbst entscheiden kann, muss auch permanent Entscheidungen treffen. Jeder Einzelne steht vor der Herausforderung, etwas aus sich zu machen. Wie der Medienphilosoph Norbert Bolz es treffend formulierte: «Man muss selbst entscheiden, wer man ist – Sinn wird zunehmend zur Privatsache.»

Die vorherrschende Gleichzeitigkeit aller Möglichkeiten kann Menschen auch überfordern. Das Privileg der Freiheit kann sich umkehren: in spürbaren Druck, individuell sein zu müssen. Das ist nicht verwunderlich, ist doch das Konzept Individualität an sich etwas paradox: Individualität bezeichnet die Einzigartigkeit des Menschen, doch sind alle Menschen individuell. Oder anders gesagt: Wenn viele Menschen einzigartig sein wollen, sind sie in diesem Punkt genau wie alle anderen. Wie fällt man auf in einer Welt voller Individualisten?

Das beste Ich: Konkurrenzkampf und Selbstoptimierung

Es ist noch nicht so lange her, da konnte man mit Rock ’n’ Roll, Kaugummikauen und zerrissenen Jeans, später mit Tattoos oder pinken Haaren rebellieren und damit ganze Generationen schockieren. Aus dem Rahmen zu fallen, war für Punks oder «Heavy Metaller» noch deutlich einfacher. Heute empört das niemanden mehr. Es scheint fast, als würde Freiheit in Angepasstheit und Individualismus in Uniformität münden. In der Tat ist um Einzigartigkeit ein Konkurrenzkampf entbrannt. Individualismus bedingt, dass wir in einem ständigen Konkurrenzmodus leben. Das zeigt sich auch an der Lieblings­beschäftigung hoch individualisierter Gesellschaften: der Selbst­optimierung. Dank digitaler Technologie stehen wir permanent unter Beobachtung. Mit allen Daten, die digitale Devices und verschiedenste Tracking-Apps über uns sammeln, betreiben wir kontinuierliche Verhaltensoptimierung. Ob Kalorienzufuhr, Sleep-Monitoring, Anzahl Schritte oder Stresslevel-Messung: Es gibt fast nichts, das nicht erfassbar und optimierbar wäre.

Unser verbessertes Selbst behalten wir nicht für uns, sondern tragen es öffentlich zur Schau. Bevorzugt in den sozialen Medien. Hier sichert ein gelungener Auftritt auch gleich die entsprechende Anerkennung in Form von Likes und Kommentaren. Das bessere Selbst steigert den sozialen Status. Für alle anderen bedeutet das allerdings, dass sie Profilen hinterherjagen, die es scheinbar besser haben als man selbst. Bessere Körper, mehr Sport, gesündere Ernährung, attraktivere Partner, hübschere Wohnungen, spannendere Jobs – niemand, der Wert auf Individualität legt, scheint vor einem permanenten Wettbewerbsgefühl gefeit zu sein. Trotz Individualität möchte man dazugehören, ist abhängig von Anerkennung und Lob. Der dauergedrückte Like-Button wird für viele zur neuen Währung.

Die meisten Menschen streben nach Individualität. Doch das ist gar nicht so einfach: Wenn alle individuell sein wollen, kann das auch in Uniformität münden. Foto Westend61 / Vista Col­lection / Vitta Gallery

Vielfalt an Lebensstilen, Werten und Normen

Doch halt! Das Phänomen Individualisierung verändert unsere Lebenswelten auch stark auf positive Art und Weise. Dadurch, dass Menschen in ihrer Lebensgestaltung immer mehr Wahlfreiheiten haben, lösen sich die neuen Generationen von vorgefertigten Biografie-, Berufs- und Erfolgsschablonen. Noch vor einigen Jahrzehnten sah eine klassische Biografie vor, dass nach einer Ausbildung oder einem Studium rasch geheiratet und eine Familie gegründet wurde. Die Rollen von Mann und Frau waren dabei klar verteilt: Der Mann arbeitete und machte Karriere, die Frau kümmerte sich um Haus und Kinder. Es folgten die Rente und der Lebensabend. Auch der berufliche Werdegang war oft schon vorbestimmt: Man trat in die Fusstapfen der Eltern. Die Individualisierung und die damit einhergehende Multioptionalität verändern nachhaltig das Bild, das wir von einem gelungenen Leben haben. Auch die Normen und Werte in der Gesellschaft wandeln sich und werden vielfältiger. Damit steigen auch Toleranz und Akzeptanz für abweichende Lebensmodelle. Offenheit und Diversität werden zu Kernwerten.

Von der Biografie zur Multigrafie

Heutige Biografien verlaufen nicht mehr nur linear – es gibt Brüche, Umwege und Neuanfänge. Geltende Regeln schwinden, es geht weg von der Normbiografie hin zu einer «Multigrafie». Zwischen die Jugend- und die Erwachsenenzeit schiebt sich eine neue Phase des Ausprobierens und der Selbstfindung. Lebensverändernde Entscheidungen wie Eheschliessung und Kinderkriegen werden länger aufgeschoben und verlängern die Zeit der Optionenvielfalt. Sind die Kinder aus dem Haus, kommt es oftmals zu einer neuen Aufbruchs­phase, bei der über 50-Jährige noch einmal durchstarten und sich beruflich oder privat verändern. Auch die Rentenzeit befindet sich in einem starken Wandel: Statt einem passiven Ruhestand erfolgt eine aktive Lebensgestaltung. In allen Lebensphasen können sich zudem diverse Veränderungen wie Berufsneuorientierungen, Sabbaticals, die Entstehung neuer Partnerschaften oder Patchwork-Familien vollziehen.

«Heutige Biografien verlaufen nicht mehr nur linear – es gibt Brüche, Umwege und Neuanfänge.»

Nächster Halt: berufliche Selbstverwirklichung

Im Job steht vermehrt die Entfaltung von individuellen Interessen und Leidenschaften im Fokus. Das schnurgerade Erklimmen der Karriereleiter wird heute eher müde belächelt als angestrebt. Was zählt, ist die Verwirklichung des eigenen Potenzials – nicht mehr nur im Privatleben, sondern auch in der Arbeit. Viele aus der Generation Z, geboren zwischen 1997 bis 2010, vertreten die Einstellung, dass es unmöglich ist, sämtliche ihrer Interessen in einem einzigen Job auszuleben. Die Lösung: Sie werden zu Multi-Jobbern. Ein Lebensstil, bei dem ein Lifecoach nebenbei noch Cupcakes backt oder eine Projektleiterin am Wochenende an ihrem Roman schreibt. Das Mindset ist bunt, kreativ, innovativ. Zwar etwas unberechenbar, doch nachvollziehbar und sinnstiftend.

Gleichzeitig tragen Jobwechsel, die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen und unterschiedliche Qualifikationen zur sogenannten Employability, der Bes­chäf­tigungs­fähigkeit von Arbeitnehmenden und Selbständigen bei, die schon heute tendenziell mehr Facetten bieten müssen, um den Anschluss in der sich schnell verändernden Arbeitswelt nicht zu verlieren. Auch die Arbeitsorte als solche verändern sich. Dank dem Digitalisierungsschub im Zuge von Corona sind wir immer weniger an feste Arbeitsorte gebunden. Die neue räumliche Freiheit macht flexibel – und mobil. Im Ausland leben und arbeiten, ob für längere Zeit oder nur für einige Monate: kein Problem mehr.

Individualismus = Egoismus?

Wenn das Ich nun aber so stark im Vordergrund steht, stellt sich die Frage: Ist Individualismus synonym zu Egoismus? Wie verändert sich das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft? Klar ist, dass es noch nie so viel Ich gab wie heute. Kritiker bemängeln, dass man sich in der westlichen Welt zu sehr mit dem eigenen Innenleben auseinandersetzt und mit der Suche nach dem Selbst eine ganze In­dustrie von Coaches und Therapeuten beschäftigt ist. Die Gegenseite argumentiert, dass sich darin lediglich ein neues Bewusstsein und eine neue Wertschätzung des Seins widerspiegeln würden. Wenn man die Vielfalt der Lebensoptionen selbst in der Hand habe, sei es nur logisch, dass man sich stärker auf sich selbst fokussieren müsse, um richtige Entscheidungen zu treffen.

Die Psychologin Prof. Dr. Wiebke Bleidorn bestätigt im Interview, dass den Menschen die Interaktion mit anderen, Zugehörigkeit, das Teilen gemeinsamer Interessen und Anerkennung grundsätzlich ebenso wichtig sind wie ihre Einzig­artigkeit. Dafür ist man auch bereit, einen Teil der eigenen Individualität hintanzu­stellen. Das Verhältnis zwischen dem Ich und dem Wir wird derzeit neu ausgehandelt. Neue Gemeinschaften rücken ins Zentrum – selbstgewählte Zugehörigkeiten, Verwandtschaften nach Sympathie sozusagen. Auch in einer individualisierten Welt brauchen Menschen Bindungen.

Das Zuhause als Ausdruck von Individualität

Zum verbindenden Element zwischen Individuen kann auch die Art und Weise werden, in der sich die Einzigartigkeit ausdrückt. Dabei kann gelebte Individualität die unterschiedlichsten Formen annehmen – auch im eigenen Zuhause und Garten. Für die meisten Menschen bedeutet das Eigenheim Selbstentfaltung. Wo, wenn nicht am individuellen Wohnraum, zeigt sich deutlicher, wer man als Person ist? In den eigenen vier Wänden kann man seinem Stil, seinen Überzeugungen und Vorstellungen maximalen Ausdruck verleihen. Die Baubranche reagiert auf dieses Bedürfnis und bietet eine breite Palette an Auswahlmöglich­keiten bei Materialien und Designs an. Türen, Fenster, Handgriffe, Böden, Tapeten und vieles mehr können bedarfsgerecht auf die Wünsche und Präferenzen der Eigenheimbesitzer zugeschnitten werden. Selbst Psychologen und Architekten arbeiten seit einigen Jahren vermehrt zusammen. Zeig mir dein Zuhause und ich sage dir, wer du bist.

Wer die Wahl hat, hat die Qual, wie es so schön heisst. Und doch: Ein morgendlicher Kaffee, den man so trinken kann, dass er dem individuellen Geschmack, den eigenen Lebensmittelunverträglichkeiten und Nachhaltigkeitsanschauungen entspricht, ist doch irgendwie ein guter Start in den Tag, oder?

Wohntrend Individualismus

Foto: Keystone / Laif / Cathrine Stukhard

Modulares Bauen: individuelles Baukastenprinzip

Ebenso intelligent in der Raumausnutzung wie die Mikroappartements sind modulare Wohneinheiten oder Häuser. Die einzelnen Module lassen sich nach dem Baukasten­­prinzip zusammensetzen und können flexibel an familiäre und unternehmerische Veränderungen und Lebensmodelle angepasst werden. Ob als Single, später in Partnerschaft, als Familie mit Kindern oder als jemand, der neu von zu Hause aus arbeitet: Anbau oder Aufstockung sind leicht umsetzbar und können auf indi­viduelle Bedürfnisse und Lebenslagen abgestimmt werden.

Quelle: villavals.ch / Foto: zVg Iwan Stöcklin

Das Architektenhaus: der Traum jedes Individualisten

Sie sind das Sinnbild für Individualität beim Hausbau: Architektenhäuser. Von A bis Z nach individuellen Wünschen, kreativen Ideen und finanziellen Vorgaben geplant und gebaut. Wie diese unter­irdische Villa in Vals, die durch die Netflix-Produktion «Die aussergewöhnlichsten Häuser der Welt» Berühmtheit erlangte.

Quelle: schoonschipamsterdam.org/en / Foto: Isabel Nabuurs

Floating Housing: Leben auf dem Wasser

Hausboote sind ein alter Hut. Im Amsterdamer Viertel Schoonschip lebt man gleich in einem schwimmenden Quartier mit 46 einzigartigen Wohneinheiten. Hier steht nicht nur der individuelle Wohnraum im Mittelpunkt, es geht auch um Nachhaltigkeit und sozialen Zusammenhalt. Das Ziel: die nachhaltigste schwimmende Gemeinschaft Europas zu werden. Individuelles Wohnen im Kollektiv sozusagen.

Foto: Getty Images / ExperienceInteriors

Mikroappartements: smart, flexibel, zukunftstauglich

Diese Wohnform für Einzelpersonen erlebt einen wahren Boom. Mikroappartements bieten auf einer Grösse von etwa 30 Qua­dratmetern alles, was man braucht: zum Wohnen, Schlafen, Kochen, Duschen. Sie werden voll- oder teilmöbliert vermietet, sind kostengünstig und eignen sich damit ideal für das Wohnen auf Zeit. Perfekt für mobile Individualisten, die remote arbeiten und neue Städte entdecken wollen.

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