Einzig oder artig
«Zeig mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist.» Die Psychologin Prof. Dr. Wiebke Bleidorn stimmt dem Zitat von Christian Morgenstern nicht nur zu, sie kann es gar belegen. Im Interview erklärt sie, was Persönlichkeit schafft, wie Identität entsteht und welche Bedeutung Individualität für uns hat.
Frau Bleidorn, schaffen wir etwas Klarheit: Was ist der Unterschied zwischen Persönlichkeit, Identität und Individualität?
Prof. Dr. Wiebke Bleidorn: Persönlichkeit ist, wie man von aussen gesehen wird, Identität, wie man von aussen gesehen werden will, sie beschreibt das Verhalten eines Menschen. Unter Individualität versteht man den unverwechselbaren Zug eines Menschen, mit dem er sich von der Masse abhebt.
«Persönlichkeit ist, wie man von aussen gesehen wird, Identität, wie man von aussen gesehen werden will.»
Man spricht auch von Selbstdarstellung. Sind wir denn alle Schauspieler?
Tatsächlich verglich der Soziologe Goffman soziales Verhalten mit dem Verhalten eines Schauspielers auf der Bühne, nur dass die Rolle das Bild ist, das er von sich selbst vermitteln möchte. Aus dieser Sicht spielen wir in der Öffentlichkeit alle Theater. Wir führen unsere erwünschte Persönlichkeit vor, indem wir uns eine Maske aufsetzen. Hierbei stellen wir uns so dar, dass wir im Spiegel der anderen unser Selbstbild bestätigen, oder wir setzen uns so in Szene, dass wir im Spiegel der anderen ein Bild sehen, das uns schmeichelt.
Wie wichtig ist den Menschen denn Selbstdarstellung?
Sehr wichtig – wobei sich Menschen durchaus in diesem Bedürfnis unterscheiden. Während manche Personen sehr darauf bedacht sind, sich selbst darzustellen und auszudrücken, ist es für andere weniger wichtig. Hier spielt sicher auch der kulturelle Hintergrund eine wichtige Rolle. In individualistischen Kulturen, wie es unsere und andere westliche Kulturen sind, spielen Individualität und Selbstentfaltung eine grössere Rolle als in kollektivistischen. Bei uns haben Autonomie und Freiheit einen hohen Wert. In Ländern wie China oder Mexiko will man einer Gruppe zugehören und eine Identität haben, die der Gruppe entspricht. Soziale Beziehungen sind wichtiger als das eigene Vorankommen.
Welche Voraussetzungen braucht es, damit ein Mensch sich selbst entfalten kann?
Das hängt sicherlich vom jeweiligen Lebensbereich ab. Im Allgemeinen gilt, dass Chancengleichheit und Durchlässigkeit in der Gesellschaft zentral sind, damit sich Personen optimal entsprechend ihren Voraussetzungen entfalten können. Nur wenn das gewährleistet ist, hat man überhaupt Zugang zu ver-schiedenen Lebenswegen. Und man braucht natürlich auch finanzielle Ressourcen. Denken wir an die häusliche Umgebung: Man benötigt Mittel, um das Zuhause so zu gestalten, wie es einem entspricht.
Wie wichtig ist trotz Wunsch nach Individualität die Gemeinschaft?
Grundlegende Motivationstheorien unterscheiden zwei grosse und voneinander unabhängige Bedürfnisklassen: zum einen das Bedürfnis nach Individualität, Unabhängigkeit und Status, zum anderen das Bedürfnis, dazuzugehören. Diese beiden Motive sind wie gesagt unabhängig. Das bedeutet, dass ich durchaus beides anstreben kann. Allerdings unterscheiden sich Menschen darin, wie stark sie die Motive verfolgen.
Sind wir bereit, für die Gruppenzugehörigkeit unsere Individualität zurückzustellen?
Auch hier unterscheiden wir uns, aber grundsätzlich lassen sich Situationen und Lebensbereiche identifizieren, in denen wir unsere Individualität hinter die Gemeinschaft stellen. Das ergibt dann einen interessanten Mix. Das Bedürfnis, mitzubestimmen, ist zum Beispiel in der Schweiz stark ausgeprägt. Die Bereitschaft, der Gemeinschaft zuzuhören, ist aber auch sehr hoch. Es ist ein demokratisches Miteinander, was sich auch im Kleinen widerspiegelt. Abgesehen davon ist es auch ein gutes Gefühl, seine Individualität für eine Gruppe zurückzustellen. Selbst Personen, die ein sehr grosses Bedürfnis nach Individualität haben, haben auch ein grundlegendes Bedürfnis, zu einer sozialen Gruppe dazuzugehören. Das ist etwas absolut Wichtiges für den Menschen.
Welche Kriterien unterstützen die Bildung einer eigenen Identität?
Identitätsbildung und -findung beginnt in der Jugend und dauert bis ins junge Erwachsenenalter. Man nennt diese Zeit auch «emerging adulthood». Das ist die Zeit, in der wir Autoren unserer eigenen Lebensgeschichte werden. Wir sind in der Lage, eine Geschichte zu erzählen, die kritische Informationen darüber enthält, wer wir sind und wie wir uns sehen. Dazu müssen wir autonome Erfahrungen machen können. Deshalb habe ich die letzten zwei Jahre der Pandemie gerade für junge Menschen anstrengend empfunden. Sie wurden dieser Gelegenheiten beraubt. Wenn man nur zu Hause sitzt und nichts hat, was einen ausmacht, kann man auch keine eigene Identität entwickeln.
Wie verändern die sozialen Medien unsere Identität?
Soziale Medien bieten eine weitere Plattform, um unsere Identität auszuleben, uns darzustellen und eben die Geschichte zu erzählen, die preisgibt, wer wir sind – oder wie wir von anderen gesehen werden wollen. Das Forschungsfeld ist noch recht jung, aber Untersuchungen zeigen, dass wir uns online sehr ähnlich verhalten wie offline.
Selbstdarstellung braucht Mut. Warum tun wir uns oft schwer, aus der Reihe zu tanzen?
Dafür kann es unterschiedliche Gründe geben. Die Angst, herauszustechen, kann unsere Bereitschaft, anders zu sein, beeinflussen, denn sie ist mit Risiken verbunden. Man wird beurteilt, auch mal infrage gestellt. Man liegt durchaus auch mal falsch, wenn man gegen den Strom schwimmt. Aber es geht nicht nur um Mut, sondern auch um mangelnde Kreativität und Offenheit für neue Ideen. Viele wissen gar nicht, wie sie sich selbst abgrenzen können. Und natürlich braucht es zum «Anderssein» auch soziale und finanzielle Ressourcen. Es ist deutlich einfacher, individuelle Ziele zu verfolgen, wenn man Status und die nötigen finanziellen Ressourcen hat.
«Es ist deutlich einfacher, individuelle Ziele zu verfolgen, wenn man Status und die nötigen finanziellen Ressourcen hat.»
Was macht es mit einem, wenn es keine Möglichkeit für Individualität gibt – wie in gewissen Ländern oder Institutionen?
Wer die Zugehörigkeit nicht zelebriert, findet immer Auswege. Ein gutes Beispiel sind hier Schulen mit Uniformen. Oftmals finden Schüler solcher Schulen eine ganze Reihe kreativer Ideen, wie sie diese Uniformen innerhalb der erlaubten Grenzen individualisieren und verzieren können. Man beobachtet das auch im Fussball, wo die Spieler zwar mit Stolz das Mannschaftstrikot tragen, sich aber zum Beispiel mit ausgefallenen Frisuren abgrenzen.
Welche Rolle spielt Individualität im Arbeitsleben?
In westlichen Kulturen sicher eine sehr grosse. In Abhängigkeit von Bildungsgrad und Arbeitsmarkt gibt es bereits in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter intensive Bemühungen, den Beruf zu finden, der besonders gut zur eigenen Person – also den Interessen, Fähigkeiten und der Persönlichkeit – passt. Tatsächlich gibt es auch gute Beweisbarkeit dafür, dass eine ideale Passung Vorteile hat und sich auf Arbeitsleistung und sogar das Einkommen niederschlagen kann. Menschen, die gut in ihren Beruf passen, verdienen besser.
Ist auch der Wunsch nach einem Eigenheim ein Ausdruck von erhöhtem Wunsch nach Individualität?
Absolut – sofern es die Ressourcen zulassen. Das Eigenheim ist ein grosser Ausdruck von Individualität und Unabhängigkeit, aber auch von finanzieller Absicherung. Auch wie das Haus gestaltet ist, ist ein grosser Aspekt der Individualität. Es gibt übrigens eine neue Richtung in der Psychologie, die mit Architektur einhergeht. Innenarchitekten arbeiten mit Psychologen zusammen, um herauszufinden, was die Leute eigentlich wollen. Viele Häuser sind ähnlich konzipiert: mit einem Elternschlafzimmer, zwei Kinderzimmern, zwei Badezimmern und einer Küche in ähnlicher Anordnung. Aber es zeigt sich eben, dass manche Leute das ganz anders aufbauen würden. Wenn man Leute befragt, wie sie individuell wohnen möchten, kommt man plötzlich auf ganz andere Pläne. Man kann anhand der Einrichtung übrigens tatsächlich viele Schlüsse auf die Persönlichkeit des Bewohners ziehen. Anekdotisch gilt das Sprichwort «Zeig mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist» sicher für uns alle, aber es gibt auch eine gute Beweisführung dafür. In einer spannenden Untersuchung von Professoren in Berkeley haben Studierende Zugang zu den Schlafräumen anderer Studierender erhalten und konnten mit einer hohen Trefferquote sagen, wie neurotisch die Bewohner waren, wie offen für Erfahrungen oder wie gewissenhaft. Aber sie konnten nicht sagen, ob jemand extra- oder introvertiert war.