Alles für die Athleten
Warum Sportler Individualisten sein müssen, aber nur mit einem Team Erfolg haben.
Oh nein! Mein Handy klingelt im dümmsten Moment. Ausgerechnet in diesen Sekunden fahre ich in eine Tiefgarage. Ich habe keinen Empfang mehr.
Sie rief mich aus dem Krankenwagen an. Das verriet mir wenige Minuten später ihre hinterlassene Nachricht: «Ich bin gleich im Spital, da werde ich geröntgt. Ich melde mich, wenn ich wieder telefonieren kann.» Es war Sonntagabend, 18 Uhr – und ich machte mir etwas Sorgen. Schon seit einigen Jahren betreue ich diese bekannte Spitzensportlerin. Ich kümmere mich um die Medienarbeit, das Marketing, die Sponsoren, die Website und vieles mehr. Sie war allein mit dem Velo unterwegs. Eine längere Trainingsstrecke hatte sie bereits hinter sich. Dann passierte das Malheur: Sie stürzte. Passanten halfen ihr sofort und alarmierten den Notarzt. Stunden später meldete sich die Athletin aus dem Spital. Wir hatten noch nicht alle Neuigkeiten zu ihrem Gesundheitszustand und mussten weiter warten.
Wir lesen und hören sehr oft von verletzten Sportlerinnen und Sportlern oder auch schlimmen Unfällen. Sie alle kennen Michael Schumacher. Auf den Rennstrecken ein Genie – und ein Egoist. Aber schon zu seiner Aktivzeit war er auf die Hilfe eines Teams angewiesen. Und heute? Was wurde über seinen Skiunfall publik? Wie gelingt es dem Management, dass seit über acht Jahren keine Bilder des kranken siebenfachen Formel-1-Weltmeisters veröffentlicht werden? Dass kein Arzt, kein Pfleger Einzelheiten über seinen Gesundheitszustand verrät. Um das richtig zu machen, braucht es viel Fingerspitzengefühl. Es braucht das Team. Und ich bin für die Sportlerinnen und Sportler, die ich betreue, Teil eines solchen Teams.
Die grosse Frage lautet: Sind Einzelsportler Individualisten, also Personen, die möglichst grosse Eigenständigkeit im Denken und Handeln für sich beanspruchen? Meine Antwort lautet: ja. Sie sind sogar Egoisten. Das müssen sie auch sein. Wer zu viel Rücksicht auf andere nimmt, verlässt seinen eigenen Weg. Doch auf diesem Weg ist der erfolgreiche Sportler nicht allein unterwegs. Keiner.
Haben Sie sich schon einmal Gedanken gemacht, wie viele fleissige Helfer um einen Einzelsportler herumschwirren? Bei einigen Sportarten ist es offensichtlich, bei anderen arbeitet das Team verborgen im Hintergrund. Klar ist: Ohne Team hat kein Spitzensportler Erfolg. Er braucht die richtigen Schuhe, den richtigen Anzug, den richtigen Mechaniker. Ein Management, das ihn im Sponsoring- und Medienbereich unterstützt und ihm die nötige Erholungszeit freischaufelt.
Denn was Einzelsportler täglich leisten, ist immens. Sie verfolgen permanent ein hohes Ziel. Sie müssen sich konsequent weiterentwickeln. Sie riskieren viel und müssen oft Umwege gehen. Oder Rückschläge einstecken. Die Triathlon-Olympiasiegerin Nicola Spirig hat sich mit dem härtesten Trainer der Welt zusammengetan. Sie diskutieren heute noch kontrovers und verstehen sich nicht immer. Aber wer ist bei Auseinandersetzungen der Boss? Die Athletin zahlt den Trainer. Er plant ihr Training, ist ständig dabei. Erfolgreich können sie nur zusammen als Team sein. Es gilt, Gewohnheiten abzulegen, unbequeme Wege zu gehen. Der Trainer muss der Athletin seine Meinung sagen können. Auch wenn es weh tut. Auch wenn sie die Chefin ist.
Für die Athleten geht es darum, sich als Marke aufzubauen und zu positionieren. Sie setzen das Team aus Personen wie Puzzlesteine zusammen. Jeder kann jederzeit ausgewechselt werden. Jeder muss seinen Teil zum Unternehmen beitragen. Der Athlet entscheidet und trägt die Verantwortung.
Es ist aber vor allem auch das Umfeld, das die akribische, egoistische Planung des Athleten aushalten muss. Vor den Spielen in Peking hat sich Olympiasieger Nevin Galmarini in Isolation begeben. Keine Familie, keine Kinder. Allein essen, allein trainieren. Wochenlang. Mit dem Ziel, konsequent den Kontakt mit dem Covidvirus zu vermeiden. Alles wurde bis ins letzte Detail geplant. Sogar der Zeitpunkt des letzten Telefonats mit der Ehefrau vor dem Wettkampf. Sein Team hat Galmarini getragen, alles getan, damit er die Isolation durchhält und eine gute Leistung bringen kann. Es braucht ein riesiges Verständnis von allen rund um einen Spitzensportler. Es ist ein Balanceakt für Umfeld und Athlet. Eine Seite kommt dabei immer zu kurz. Sie muss zurückstecken und die Situation akzeptieren. Auch ich bin ein kleiner Puzzlestein. Wann ein Athlet meine Hilfe braucht, spielt keine Rolle. Ich bin rund um die Uhr erreichbar, eigentlich ständig in einer Art Krisenmodus.
5 Stunden und 24 Minuten dauerte am 30. Januar dieses Jahres der epische Final des Australian Open zwischen dem Spanier Rafael Nadal und dem Russen Daniil Medvedev. Immer wieder hatte Nadal in den Monaten zuvor mit Verletzungen gekämpft. Sogar das Wort Karriereende machte die Runde. Doch der Spanier übertraf sich selbst und gewann seinen 21. Major-Titel. Was für eine unglaubliche Leistung eines Einzelsportlers. Aber bei wem bedankte sich der Spanier bei der Pokalübergabe als Erstes? Sie ahnen es: bei seinem Team. Alle Spitzensportler wissen es: Allein haben sie keine Chance.
So, jetzt möchte ich Ihnen noch verraten, welche Sportlerin mir aus dem Krankenwagen … Oh nein, Entschuldigung, mein Handy klingelt – es brennt.