Smarte Energie
Das Handy ist unweigerlich mit dem Thema Energie verknüpft. Nik Hartmann über Segen und Fluch des smarten Geräts und warum «unplugged» sinnvoll, aber kaum mehr realistisch ist.
Aha, da war offensichtlich eine Premiere, und ich war nicht eingeladen. Seit Minuten swipe ich mich durch die Storys meiner Instafreundinnen und -freunde. Alle waren offenbar dort. Auf den Bildern der herausgeputzten Menschen ist die Welt noch in Ordnung. Alle lächeln: #bestpartyever #friends #healthyfood. Bei mir hingegen sieht es anders aus. Habe ich um 11 Uhr nur noch 34 Prozent Akku, werde ich langsam nervös und suche eine Steckdose. Es ist das eindeutige Zeichen dafür, dass ich bereits am Vormittag ungeheuerlich viel Energie verbraucht habe, aber trotzdem nicht wirklich produktiv gewesen sein muss. Die Ablenkung ist gross. Meine Konzentrationsfähigkeit am Bildschirm mit funktionierendem Netz entspricht häufig der einer Blattlaus. Ohne die Blattlaus beleidigen zu wollen. Wo war ich? Ich drehte mich offenbar wieder seit Stunden in der bekannten Endlosschlaufe: Instagram, WhatsApp, Mail (und dann wieder von vorn).
Es ist ein Fluch, dieses Smartphone. Es ist der Heilsbringer, der uns schneller Dinge kaufen lässt als je zuvor, der unsere Meinung an Gruppen verschickt, die grösser sind, als eine durchschnittliche Schweizer Stadt Einwohner zählt, der das Kino und den Plattenladen ersetzt und der uns mit all den Erleichterungen ganz viel Zeit schenkt. Energie ist Arbeit mal Zeit. Wenn also, rein physikalisch, weniger Arbeit anfällt, braucht das weniger Energie, oder wenn wir weniger Energie brauchen, haben wir mehr Zeit. Aber wir wissen alle: Vergiss dä! Ich war sowieso nie gut in Mathematik und verliess mich schon immer auf meine Gefühle.
Ich spüre es: Ich müsste meinen Smartphonekonsum drastisch reduzieren. Ich habe mal Buch geführt, um mir vor Augen zu führen, wie viel Zeit ich damit «verdubble», unnütze Apps aufzurufen, mich immer latent neidisch (Aha, schon wieder Ferien) oder mit zynischen Gedanken (Oh, der hat aber zugenommen) durch die Freundeaccounts auf den Socialmediakanälen zu quälen und dabei Energie zu verlieren: Ich kam mit Zählen nicht nach, hätte aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der aufgewendeten Zeit geradeso gut auch ein Studium in Atomphysik inklusive Doktorarbeit abschliessen können.
Der Energieverbrauch bei uns wird bis 2050 etwa 20 Prozent höher sein als heute. Diese Zahl habe ich kürzlich im Radio gehört. Mussten Sie auch bereits ein neues Möbel kaufen, um all die Netzteile und Ladegeräte zu verstauen? Ich bin schon so weit, dass ich mich weigere, eine elektrische Zahnbürste zu benutzen – ich will keine zusätzliche Ladestation mehr in meinem Haushalt. Dann lieber Karies.
Alles hat einen Akku, und dabei vergesse ich, regelmässig meine eigenen Batterien aufzuladen. Netflix begleitet einen bis unter die Bettdecke, und allzu oft erwache ich durch den Aufprall des Smartphones auf meiner Stirn, es ist mir aus den Händen über meinem Kopf gefallen.
Manager treiben vor, zwischen und nach den Outlook-Einträgen Sport. Das habe ich nie verstanden. Warum quält sich der CEO eines Autoimporteurs noch stundenlang auf dem Fahrrad, rennt der Spitzenkoch an seinem einzigen freien Tag über die Kleine Scheidegg? Ich weiss jetzt, warum (ich bin nun nämlich auch Manager): Man lädt beim Fettverbrennen Energie in den Tank. Der Körper wird gefordert und der Geist befreit. Ein Waldlauf nach 134 Calls wirkt bei mir Wunder: Er gibt mir Energie und ordnet die Gedanken. Und da sich mein Smartphone in 38 Minuten voll aufladen lässt, steht es mir nach der Dusche auch wieder voll geladen zur Verfügung. Was natürlich gelogen ist, denn ich habe es bei meinen Läufen ja immer dabei. Es zeichnet meine gelaufene Strecke und die Vitaldaten auf.
In den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat der Musiksender MTV einmal allen Instrumenten den Stecker gezogen und die Unplugged-Konzerte erfunden. Das macht heute nicht mehr viel Sinn, seit selbst der Staubsauger kein Kabel mehr benötigt. Ich weiss nicht, ob das nur mir so geht, aber der Wunsch, mich abzukabeln, frei von allen Verbindungen und Vernetzungsop-tionen zu sein, wird immer grösser. Ich habe mir fürs Erste vorgenommen, zweimal täglich ohne Smartphone aufs WC zu gehen. Die Druckstellen meiner Ellenbogen auf den Knien drohten chronisch zu werden. Ich musste handeln. Vielleicht schaffe ich es zeitnah auch, morgens wieder zuerst aufzustehen und mich nicht gleich in der Smartphone-Endlosschleife zu verlieren. Auch nach der zwölften Überprüfung innert 90 Sekunden hat mir um 6.30 Uhr nämlich immer noch niemand eine Mitteilung zugestellt. Okay, spannend ist natürlich schon die Frage, warum Kuno noch um 2.30 Uhr das letzte Mal online war (hat der Schlafprobleme, ein Puff zu Hause?). Es geht auch anders. Die Digitalisierung hat uns in sämtlichen Lebensbereichen viel Erleichterung gebracht. Die Geschwindigkeit, mit der man Dinge zu jeder Tages- und Nachtzeit erledigen kann, hilft uns, Energie für analoge Dinge freimachen zu können. Emotionen lassen sich nicht digitalisieren. Nie. Gefühle kann man nicht per Klick bestellen. Sie geschehen und benötigen Zeit, damit sie entstehen. Und sie laden jeden Akku im Nu.
Um einen Text dieser Länge zu schreiben, benötige ich übrigens normalerweise vier Tage und würde mich in diesen 96 Stunden während 94 Stunden im Dreieck Instagram, WhatsApp, Mail drehen. Ich schrieb diese Kolumne voller Energie in vier Stunden im Flieger. Unplugged.