Zeitzeuge geht mit der Zeit
Fassaden sind das primäre Erkennungsmerkmal eines Bauwerks. Bei Sanierungsprojekten stellt sich stets die Frage, ob sie verändert werden oder ob der vertraute Eindruck erhalten bleiben soll. Fällt der Entscheid auf die zweite Lösungsvariante, stehen anspruchsvolle Aufgaben ins Haus.
Die Gebäudehülle ist eine der ersten «Angriffsflächen», wenn es darum geht, ein Haus energietechnisch zu optimieren. Zusätzliche Dämmung hilft mit, die Energiebilanz in den grünen Bereich zu befördern; dicke Wände und dichte Fenster sorgen dafür, dass die Klimagrenze zwischen innen und aussen jegliche verschwenderische Durchlässigkeit verhindert. Bei Massivbauten, deren Fassaden aus Beton und Backstein auch die Geschossdecken tragen helfen, greift man in diesen Fällen gerne zu einer Aussendämmung. Wie ein Mantel wird sie um das Gebäude gelegt und anschliessend verputzt oder mit einer hinterlüfteten Verblendung vor der Witterung und mechanischen Einwirkungen geschützt. Sanierungen dieser Art haben den Begleiteffekt, dass das betreffende Haus oft nicht wiederzuerkennen ist. Manchmal verändert sich die Fassade komplett: Ihre Oberfläche zeigt neue Qualitäten, die Fenster haben dickere Rahmen und sitzen tiefer in ihrer Leibung, Brüstungen oder Balkone müssen erneuert oder stark verändert werden.
Bleib, wie du bist
Gelegentlich möchte man, dass ein Gebäude seine Gestalt nicht verändert und trotz einer Sanierung oder einer Umnutzung so bleibt, wie man es kennt. Niemand käme auf die Idee, das Bundeshaus in Bern oder die Burg Zug mit Dämmplatten einzupacken, obwohl man auch dort Energie sparen will. Deshalb müssen die Baufachleute gelegentlich nach Lösungen suchen, die nicht dem Standard entsprechen, sondern auf ein spezifisches Gebäude speziell zugeschnitten sind. Mit dieser Aufgabe sahen sich die Fachkräfte bei der Sanierung der Liegenschaft Lyssachstrasse 111 in Burgdorf konfrontiert.
Der in der Höhe abgetreppte Flachbau gehört zum Entwicklungsgebiet Suttergut, das sich knapp fünf Gehminuten von Burgdorfs Bahnhof befindet. Jahrzehntelang produzierte hier die Firma Aebi & Co. AG ihre bekannten Landmaschinen. Die Alfred Müller AG hat auf dem westlichen Teil des Areals die Siedlung Wohnen und Arbeiten Suttergut realisiert, mit drei neuen Mehrfamilienhäusern, die über 100 Miet- und Eigentumswohnungen umfassen. Das Gebäude an der Lyssachstrasse 111 vervollständigt das Ensemble und bildet den Übergang zum Arealteil Suttergut Industrie. Der Betonskelettbau mit seiner nicht tragenden Sichtbetonfassade wurde nach Plänen des Büros Leutwyler Partner Architekten, Zürich, im Auftrag der Alfred Müller AG umfassend saniert und im Inneren komplett erneuert. Er beherbergt nun rund 1'200 Quadratmeter moderne Gewerberäume. Und wer durch die Lyssachstrasse spaziert, wird feststellen, dass das Gebäude noch so aussieht wie bisher.
Innere Erneuerung
Der Weg zum alt-neuen Look beschäftigte zahlreiche Spezialisten und war vergleichsweise aufwendig. Weshalb leistete sich die Alfred Müller AG bei diesem ziemlich unspektakulären, nüchtern wirkenden Zweckbau so viel Mühe? «Das Gebäude ist im Bauinventar der Stadt Burgdorf als erhaltenswert eingestuft, da es zu den besten Bauten der Moderne in Burgdorf zählt und als Zeuge der industriellen Vergangenheit gilt», erklärt Adrian Zemp, Abteilungsleiter Bauausführung und verantwortlicher Projektleiter. Zwar steht der 1937 errichtete Bau, der zuerst als Schreinerei, anschliessend als Kasterei (Produktionsstätte für automatische Herstellung von Metallteilen) und Reparaturwerkstatt diente, nicht unter Denkmalschutz. Doch er repräsentiert an prominenter Lage die industrielle Vergangenheit des Quartiers und fügt sich passgenau in die neue Siedlung Wohnen und Arbeiten Suttergut ein. So trägt er dank seiner Vertrautheit zur schnelleren und besseren Integration der Gesamtüberbauung ins Ortsgefüge bei.
Es ging also darum, das äussere Erscheinungsbild zu bewahren, Schadstellen auszubessern und die Gebäudehülle so zu optimieren, dass sie einen Beitrag an die effiziente energetische Bewirtschaftung und ein angenehmes Innenraumklima leistet. Mit diesem Ziel war es klar, dass die Fassadendämmung auf der Innen-seite angebracht werden musste. Diese Methode ist weit aufwendiger als eine Aussendämmung: Für alle Bauteile, welche die Gebäudehülle berühren, müssen spezifische Lösungen gefunden werden, damit sich Wärmebrücken vermeiden lassen und Energie nicht ungehindert nach draussen geleitet wird und dort verpufft.
Vorteilhaftes Konstruktionsprinzip
Das Konstruktionsprinzip des Gebäudes kam dem Planungsteam entgegen: Die Lasten der Dächer und der Zwischendecke werden nicht von der Fassade oder Innenwänden, die sie berühren, abgetragen, sondern ausschliesslich von Stützen, die alle in einiger Distanz hinter der Gebäudehülle liegen. An dieser Grunddisposition wurde nichts geändert: «Den zentralen Erschliessungskern haben wir am alten Ort vollständig und erdbebensicher in Beton erneuert», erzählt Adrian Zemp und fügt hinzu, dass auch die Bodenplatte und die Decke des zweigeschossigen Gebäudeteils neu betoniert worden seien. Zwischen diesen frisch erstellten horizontalen Flächen und der alten Fassade liess man einen Zwischenraum frei für eine Perimeterdämmung. An sie schliesst auf der Innenseite der Fassade eine Dämmschicht aus extrudiertem Polystyrol-Hartschaum (XPS) an. Sie hat eine Stärke von 120 Millimeter und ist mit einer Vorsatzschale mit einer zusätzlichen, 50 Millimeter starken Mineralwolle-Dämmschicht verblendet.
Die Innendämmung endet unter den leicht vorstehenden Flachdächern. Diese blieben bestehen und sind wie zuvor begrünt. Über den tragenden Hourdis-Tonhohlplatten wurde die bisherige Dicht- und Dämmschicht abgetragen und neu aufgebaut. Die Klimagrenze befindet sich somit im Gegensatz zu den Fassaden auf der Aussenseite der Tragschicht. Bei den Übergängen von Dach zu Fassade wurde deshalb die Dach-Unterseite innen mit einer umlaufenden XPS-Flankendämmung versehen. Die einfach verglasten Fenster mussten erneuert werden. «Nun besitzt das Gebäude eine Dreifach-Verglasung», kommentiert Adrian Zemp diesen Sanierungsschritt. Fenster sind ein Schlüsselelement der Fassade, weshalb bei dieser Massnahme zahlreiche Detailfragen geklärt werden mussten, damit das Endresultat mit dem angestrebten Ziel übereinstimmte. Und in der Tat hat sich der Gesamteindruck auch bei den Öffnungen erhalten lassen: Die Fensterebenen verlaufen im bisherigen Bereich und auch die ursprünglichen Grund-Fenstereinteilungen (horizontal und vertikal) wurden beibehalten. Allerdings entfiel die feingliedrige Sprossenteilung. Über den Fenstern wurden wieder aussenliegende Textilstoren montiert. Die Storenkästen sind in der Farbe Rot einbrennlackiert – wie ein bestehendes Tor.
In Handarbeit reprofiliert
Das eigentliche Meisterstück der Fassadensanierung betrifft die äussere Erscheinung der einstigen Schreinerei Nord. Diese hatte mit den Jahren gelitten; der Sichtbeton wies Abplatzungen auf. Solche Spuren der Zeit wollte man entfernen und den ursprünglichen Zustand wieder herstellen. Diese Spezialistenaufgabe wurde der Firma Weiss + Appetito AG übertragen, die schon die Betonfassade der alten Markthalle in Burgdorf saniert hatte. Die Fachleute machten sich daran, die Oberfläche auszubessern und zu reprofilieren, eine Handarbeit, die Geschick und ästhetisches Feingefühl verlangt. Denn am Schluss musste der Beton so aussehen, wie er einst gegossen wurde – mit dem Abdruck der Schalungsbretter von anno 1937, welcher die Fassade mit einer feinen Reliefstruktur überzieht.
Die gelungene Reprofilierung und der anschliessend aufgebrachte grünliche Anstrich lassen das Gebäude in neuem Glanz wie ehedem erstrahlen. Vielleicht ist erstrahlen bei diesem nüchternen Zweckbau nicht ganz die treffende Wortwahl, sie bringt aber angemessen zum Ausdruck, dass auch die vermeintliche Unscheinbarkeit ihre Qualitäten hat.