Wie sicher ist sicher?

Das Leben ist eine unsichere Angelegenheit. Wohl gerade deshalb ist das Streben nach Sicherheit ein menschliches Grundbedürfnis. Was «Sicherheit» dabei genau bedeutet, ist mit Sicherheit nur eines: nämlich vieles. Ein Erörterungsversuch.

Wie sicher fühlen Sie sich – heute und im Allgemeinen? Was genau bedeutet das für Sie: Sicherheit? Das Wort taucht in unserem Sprachgebrauch fast inflationär auf. Gleichwohl ist Sicherheit ein hochemotionales und persönliches Thema, dessen Schwerpunkt jede Person woanders setzt. Unbestritten ist: Sicherheit ist ein Grundbedürfnis.

Doch was brauchen wir, um uns sicher zu fühlen? Der Sicherheits­begriff kann sich auf alle erdenklichen Aspekte beziehen – von persönlicher und finanzieller Sicherheit über Daten- und Informations­sicherheit, Einbruch­schutz und Arbeits­sicherheit bis hin zum Schutz vor Pande­mien und Natur­katastrophen. Im täglichen Leben sind wir ständig mit der Sicherheits­thematik konfrontiert, ob bewusst oder unbewusst: Sicherheits­vorschriften, Versicherungen, Sicherheitsgurte, Firewalls, Sicherheits­kleidung & Co. machen unser Leben sicherer. Aber ist es das, was wir unter Sicherheit verstehen?

Alles eine Sache der Perspektive

Für die meisten Menschen bedeutet Sicherheit eine gesicherte Grundversorgung, ein Dach über dem Kopf, feste Arbeit, wirtschaftliche Absicherung, eine sichere politische Lage und die Freiheit, sich jederzeit und ohne Angst auf der Strasse bewegen zu können. Anderen gibt es Sicherheit, wenn sie gesund sind, ein sicheres soziales Netz mit stabilen Freundschaften und einen guten Zusammenhalt in der Familie haben. Auch Alltag, Struktur und Verlässlichkeit können Sicherheit vermitteln: sich darauf verlassen zu können, dass manche Dinge so bleiben, wie sie sind.

Sicherheit wird definiert als Zustand des körperlichen und seelischen Geschütztseins vor Gefahr oder Schaden. Das tatsächliche Nichtvorhandensein von Gefährdung – Sicherheit im objektiven Sinn – ist messbar. Anhand der jährlichen polizeilichen Kriminalstatistik zum Beispiel lässt sich erfassen, wie sicher die Schweiz ist. Laut dieser wurden 2019 schweizweit rund 36 400 Einbruch- und Einschleichdiebstähle registriert. Das sind 6,3 Prozent weniger als im Vorjahr – und nur halb so viele wie im Rekordjahr 2012. Fühlt es sich aber wirklich so an, als sei das eigene Hab und Gut heute sicherer als vor einigen ­Jahren? Die Zahl der Betrugsstraftaten ­verzeichnet seit 2009 nämlich einen gewaltigen Anstieg von 125 Prozent. Die polizeiliche Kriminalstatistik führt dies auf die zunehmende Verbreitung digitaler Kriminalität zurück. Nutzt man deshalb das Internet weniger als früher? Hört man deshalb auf, sich im WhatsApp-Familienchat auszutauschen?

«Wie viel Freiheit ist man bereit, für Sicherheit zu opfern?»

Die Relevanz subjektiver Sicherheit

Hier zeigt sich Sicherheit als ein Konstrukt gesellschaftlicher Wahrnehmung: Unsicherheit muss erst verspürt werden, um zu existieren. Befindet sich ein Tourist in einem Stadtteil, den er vom Hörensagen als gefährlich einstuft, fühlt er sich möglicherweise unsicher, obwohl keinerlei faktische Gefahrenquellen bestehen. Das subjektive Sicherheitsempfinden ist zentral dafür, dass Menschen sich in ihrer Umgebung wohl- und sicher fühlen – unabhängig davon, ob die empfundene Sicherheit tatsächlich gegeben ist oder nicht. Aus­löser für das Gefühl von Unsicherheit sind vielfältig – und vor allem individuell. Die soziodemografischen Merkmale einer Person, ihre Lebensumgebung, das grundsätzliche Vertrauen in andere Individuen und Sicherheitsorganisationen, die Beeinflussung durch die Medienberichterstattung und viele weitere Faktoren spielen dabei eine Rolle.

Umfragen können dabei helfen, das nur schwer greifbare subjektive Sicherheitsempfinden abzubilden. Aussagekräftige Informationen darüber, wie sicher sich die Schweizer Bevölkerung fühlt, gibt zum ­Beispiel die jährliche Umfrage des Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich. Die Daten zu Themen der Sicherheit und Sicherheitspolitik wurden 2020 unmittelbar vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie erhoben. Zu diesem Zeitpunkt blickten 86 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer noch optimistisch in die Zukunft der Schweiz. 95 Prozent der Befragten gaben an, sich im Allgemeinen sicher zu fühlen. 72 Prozent schätzten die weltpolitische Lage hingegen als pessimistisch ein. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Zahlen in der kommenden Befragung verändern werden. Aber: Eine Studie der Militärakademie an der ETH Zürich, die während der Corona-Krise im April durchgeführt wurde, zeigt bereits, dass die Schweizer Armee von signifikant mehr Personen für notwendig erachtet wurde als in den Vorjahren. Die Ausnahmesituation scheint das Bedürfnis nach Sicherheit verstärkt zu haben.

Auf unsichere Zeiten vorbereiten?

Einzelne Ereignisse können sogar das ­subjektive Sicherheitsempfinden ganzer Gesellschaften verändern. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA galt Fliegen einige Zeit als unsicher, obwohl die Wahrscheinlichkeit, mit einem Flugzeug abzustürzen, de facto nicht gestiegen war. Auf dieselbe Art und Weise hat die Verbreitung von Covid-19 eine gar globale Verunsicherung verursacht. Gesundheit, Job, Bewegungsfreiheit – die Unsicherheit ist im Zuge von Corona in ­vielerlei Bereichen stark gestiegen. Viele Menschen haben das Bedürfnis, «besser» auf Krisensituationen vorbereitet zu sein. Doch auf welche? Und wie? Mit Mundschutz, Desinfektionsmitteln, Dosennahrung und Toilettenpapier wäre man jetzt eingedeckt. Aber was, wenn die nächste Krise ein globaler Cyberangriff ist, der das weltweite Elektrizitätsnetz dauerhaft zusammenbrechen lässt, wie im Roman «Blackout» von Marc Elsberg eindrücklich beschrieben? Was bringt das vierlagige WC-Papier in diesem Szenario?

Zwei, eins, Risiko?

«Vorsorge ist besser als Nachsorge», heisst es im Volksmund. Und so gibt es eine Vielzahl an Sicherheitslösungen und Sicherheitsvorkehrungen, die dazu dienen, Risiken zu minimieren und für Schutz zu sorgen. Durch verschiedenste Massnahmen wird auf diese Weise mehr Sicherheit im Sinne eines Abbaus von Unsicherheit hergestellt. Sämtliche Sicherheitskonzepte, egal wie ausgeklügelt, können jedoch von unerwarteten Extremereignissen zunichtegemacht werden. Sich vollends darauf vorzubereiten, scheint unmöglich. Einige Individuen setzen sich sogar freiwillig und bewusst Gefahren und Risiken aus. Sie suchen den Nervenkitzel, indem sie Bungee-Jumping oder Para­gliding machen, mit Aktienwerten spekulieren oder Krisenländer bereisen. Vielleicht sind sie besonders risikofreudig, vielleicht haben sie auch erkannt, dass es unmöglich ist, sämtliche Risiken auszuschliessen. Als Flexicurity – zusammengesetzt aus den englischen Begriffen Flex­i­bility und Security – bezeichnet das Zukunftsinstitut (zukunftsinstitut.de) diesen permanenten Kompromiss zwischen angestrebter Sicherheit und notwendiger Risikobereitschaft.

Spagat zwischen Sicherheit und Freiheit

Ein nicht minder wichtiger Kompromiss muss ebenfalls tagtäglich geschlossen werden: nämlich dann, wenn sich der Wunsch nach Sicherheit dem Streben nach Freiheit in den Weg stellt. Der Staat sorgt für die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu einem grossen Teil über Kontrolle. Der Einzelne muss sich im Alltagsleben einer Vielzahl von Vorschriften und Einschränkungen unterordnen, die aus Sicherheitsgründen erlassen wurden. Von Ganzkörperscannern an Flughäfen versprechen sich Befürworter zum Beispiel mehr Sicherheit. Kritiker argumentieren, dass es sich dabei um eine Verletzung der Privatsphäre handelt. Mit Blick auf die Rolle der modernen Informationstechnologie ist die Sicherheitsfrage immer auch eine Freiheitsfrage. Wie viel Freiheit ist man bereit, für Sicherheit zu opfern? In unsicheren Zeiten ist die Bereitschaft, sich an neue und strengere Regeln zu halten, deutlich höher. Obligatorischer Mundschutz und eine App, die ihre Nutzer trackt? 2019 noch undenkbar.

«Unsicherheit muss erst verspürt werden, um zu existieren.»

Eine verzerrte Auffassung

Was heisst das nun: Ist die Welt heute un­sicherer als früher? Oder empfinden wir das nur so? Noch vor einigen Jahrzehnten war die wirtschaftliche Situation für den Bürger weit weniger sicher. Heute müssen sich die meisten Schweizerinnen und Schweizer keine Sorgen machen, sie sind gut abgesichert. Dennoch verspüren viele Menschen eine starke Unsicherheit bezüglich Einkommen, Job und Zukunft, fürchten sich vor Terror und Naturkata­strophen. Laut Zukunftsinstitut ist die empfundene Verunsicherung ein Trugschluss: «Entgegen den durch Medien weitverbreiteten Unsicherheitsgefühlen leben wir faktisch in der sichersten aller Zeiten. Egal, welche Indikatoren man in puncto Sicherheit betrachtet, die Entwicklung ist fast überall positiv. Aus der Risikogesellschaft von einst ist in vielfacher Hinsicht eine ‹Super Safe Society› geworden.»

Gleicher Ansicht ist der Wissenschaftler und Statistiker Hans Rosling. In seinem Bestseller «Factfulness» (siehe Box) zeigt er auf, weshalb viele Menschen eine verzerrte und meist zu negative Vorstellung von der Welt haben. Die Datenlage zeigt laut Rosling ein ganz anderes Bild: Die Welt sei noch nie sicherer und besser gewesen als heute. Dank riesigen Fortschritten habe sich fast jedes Land in nahezu allen Lebensbereichen über die letzten 200 Jahre verbessert – wenngleich viele Aspekte immer noch schlecht seien. Rosling plädiert für eine faktenbasierte statt eine überdramatisierte Weltsicht, die unter anderem durch die Medienberichterstattung und den menschlichen «Negativitätsinstinkt» begünstigt würde. Dadurch hätten Menschen permanent den Eindruck, dass heute alles schlechter sei als früher, während gleichzeitig Medien über gute Neuigkeiten und graduelle Verbesserungen kaum berichten würden. Ob diese Annahmen im Zusammenhang mit dem Coronavirus und dessen langfristigen Auswirkungen angepasst werden müssten, bleibt abzuwarten …

Ende gut, alles gut also?

Wissenschaftler, Philosophen und Soziologen sind sich einig: Sicherheit ist kein fixer Zustand, der erreicht werden kann. Sicherheit ist ein fortwährender und aktiver Prozess, der sich immer nur auf einen bestimmten Kontext und Zeitraum beziehen kann.

Wir alle brauchen Sicherheit. Doch letztlich können wir uns nicht gegen alle Unwägbarkeiten des Lebens absichern. Vielmehr kommt es darauf an, wie man mit Situationen, die das eigene Sicherheits­bedürfnis auf die Probe stellen, umgeht. Stichwort Resilienz – die Widerstandsfähigkeit gegen Rückschläge. Menschen, die flexibel sind und sich schnell an Veränderungen, ob positiv oder negativ, anpassen können, sind resilienter – und verfügen damit über eine wichtige Ressource, um angemessen auf die Unsicherheiten des Lebens zu reagieren. Die grosse Herausforderung ist und bleibt das Unvorhergesehene, das Unsichere. Verändern wir den Blickwinkel, könnten wir das Unbekannte aber auch als Abenteuer sehen. Und vielleicht bedeutet ein gelungenes Leben zu führen ja auch, nicht immer auf der sicheren Seite stehen zu wollen.

Was bedeutet Sicherheit für Sie?

Ronnie Schildknecht (41),
Triathlet

Sicherheit ist für mich immer ein Thema, da es bei mir schnell sehr gefährlich werden kann. Wenn ich mit 80 Stunden­kilometern eine Strasse runterfahre, muss ich mich ganz auf mein Fahrrad verlassen können. Deswegen schaue ich immer, dass mein Material in ­einem Topzustand ist. Im Privaten bedeutet Sicherheit für mich, dass wir in einer sicheren Umgebung leben und ich keine Angst haben muss, wenn unsere Tochter draussen spielt.

Sandra Schumacher (38),
Polizeioberkommissarin

Als Polizeibeamtin gehört «Sicherheit produzieren» zu meinem polizeilichen Auftrag. Durch Präsenz schafft die Polizei ein subjektives Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung. Für mich persönlich bedeutet Sicherheit Freiheit im Denken und Handeln. In Sicherheit können wir uns frei bewegen und unser Leben und unsere Zukunft kreativ und frei gestalten.

Sacha Fedier (42),
CEO und Partner VT Wealth Management AG

Sicherheit hat verschiedene Facetten. Für unsere Schweizer Kunden steht die finanzielle Sicherheit im Vordergrund, und als unabhängiger Vermögensverwalter ist es unsere Aufgabe, ihre Vermögen zu bewahren und zu vermehren. Für unsere Kunden in Lateinamerika, Russland, der Türkei oder auch in Osteuropa ist die finanzielle Sicherheit natürlich wichtig, aber die persönliche Sicherheit und damit die Diskretion steht im Vordergrund. Zum Glück darf ich mich in der Schweiz auf die finanzielle Sicherheit fokussieren.

Anna Bu (33),
Künstlerin

Sicherheit bedeutet für mich, «sich sicher zu sein», auf das eigene Bauchgefühl hören. Als Künstlerin sind für mich das Bauchgefühl und die anderen Sinne sehr wichtig, um kreative Entscheidungen zu treffen. Sicherheit ist aber auch das Gefühl von «Zuhause»: Dazu zählen für mich Routine, Freunde, Unterhaltungen, der Geschmack des Lieblingsessens, die Schritte beim Spazieren oder Musik.

Daniel Thiessen (39),
Chirurg

Der Sicherheitsaspekt rückt immer mehr in den Fokus unseres Lebens – in privater wie beruflicher Hinsicht. Ich sehe dieses wachsende Sicherheitsbedürfnis kritisch. Im medizinischen Bereich führt es zu einem enormen Ressourcenverbrauch und schadet dem Patienten nicht selten mehr, als es nützt. Privat bemühe ich mich statt um die maximale Absicherung um eine positive Erwartungshaltung. Ich lebe damit sehr gut.

 

 

 


Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist

Hans Rosling: «Factfulness»

Die Tests des Wissenschaftlers Hans Rosling haben es vielfach belegt: Viel zu viele Menschen haben ein völlig ver­zerrtes, meist allzu düsteres Bild von der Welt. Diese Sichtweise beeinflusst nicht nur ihr Denken, sondern auch ihr Handeln – und zwar nachteilig. Doch Rosling zeigt: Fakten können helfen.

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