Ganz sicher
Oder warum Vertrauen unabdingbar ist.
Aufs Ganze gesehen leben wir in sicheren Zeiten: Präventionsmassnahmen, Frühwarnsysteme, Gütesiegel, Versicherungen und Rückversicherungen halten uns Schaden vom Leib und managen bestehende Risiken. Dies mit Erfolg: Die Opferzahl von Naturkatastrophen sinkt kontinuierlich, die Schweizer Strassen gehören zu den risikoärmsten weltweit, selbst der Flugverkehr wird immer sicherer. Der moderne Mensch wappnet sich also gekonnt gegen die Kapriolen der Natur und die Unwägbarkeiten der Technik und lässt sich sein Arsenal an Sicherheitsvorkehrungen etwas kosten. Im Gegenzug muss er da und dort an die Leine: Er kann sich zwar vorwagen – doch immer nur so weit, wie ihn die Dienststellen der Sicherheit vordringen lassen. Auf dass jede Gefahr auf ein minimales Restrisiko reduziert werde.
Das gefällt nicht allen. Wenn wir an die Debatten ums Helmobligatorium für E-Bike-Fahrer oder an eine Zuckersteuer denken, fühlen sich nicht wenige bevormundet. Warum darf ich nicht selber entscheiden, wie viele Risiken ich zu tragen bereit bin? Wer so argumentiert, übersieht, dass wir keine Eremiten sind, sondern in einer Gemeinschaft leben, in der die Freiheit des einen in den meisten Fällen jene des anderen berührt: Übermässiger Zuckerkonsum ist zum Volksleiden geworden und kommt die Gesamtgesellschaft teuer zu stehen. Schwere Verkehrsunfälle belasten nicht nur das Opfer, sondern auch dessen Angehörige und letztlich auch die Solidargemeinschaft der Prämienzahler.
Wie viel Sicherheit wir um die Preisgabe von Freiheit wollen und welche Risiken wir weiter in Kauf nehmen, ist eine Frage, die wir als Gesellschaft diskutieren und entscheiden müssen. Dabei sind wir angewiesen auf Experten. Denn für die Sicherheit zuständig sind heute längst nicht mehr Schutzengel, die sich bestenfalls bitten, nicht jedoch zur Rechenschaft ziehen lassen. Sondern in der Verantwortung steht in der modernen Welt der Mensch. Er allein ist es, der Risiken berechnet, Prognosen wagt, Warnsysteme etabliert. Und wehe dem Experten, der falsch liegt! Die Klage über Schmerz und Leid werden die Sicherheitsverwöhnten nicht mehr wie einst der alttestamentliche Hiob in den Himmel schreien. Sondern sie zerren dafür die Schuldigen vor Gericht oder stellen sie an den medialen Pranger. Hätte man rechtzeitig Dämme errichtet, den Inhaltsstoff doppelt kontrolliert, die Canyoning-Boote besser ausgerüstet, früher eine Maskenpflicht eingeführt – wären dann nicht Menschenleben zu retten gewesen? Der Mensch jedoch, der für alles verantwortlich ist, ist auch ein belasteter Mensch. Er ächzt unter der Last seiner immer grösseren Verantwortung. Er schultert alle Übel der Welt, die, mit dem deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz gesprochen, nicht mehr als physische, sondern als moralische Übel gedeutet werden müssen: als Kehrseite der Freiheit des Menschen, als seine Schlampigkeit, Ungenauigkeit, vielleicht sogar Boshaftigkeit.
Der Mensch, der den Menschen für alles verantwortlich macht, begibt sich so in neue Abhängigkeiten. Zwar hält er sich die Gefahren des Himmels bestmöglich vom Leib, doch dazu muss er irdischen Experten vertrauen. Das moderne Sicherheitsbedürfnis steigert nämlich nicht nur das Bedürfnis nach Kontrolle, stellt der deutsche Philosoph Odo Marquard in seinem Bändchen «Skepsis und Zustimmung» treffend fest. Es macht diese Kontrolle zwangsläufig arbeitsteilig. Denn niemand mehr ist in der Lage, Kontrolle insgesamt auszuüben. Die althergebrachte Formel «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser» verkehrt sich deshalb, so Marquard, in die moderne Formel: «Kontrolle ist gut, Vertrauen ist zunehmend unvermeidlich.»
Die Lektion, dass unser modernes Sicherheitsbedürfnis Vertrauen in Expertinnen und Experten braucht, erteilt uns die Corona-Pandemie unerbittlich. Doch Vertrauen einzuüben, ist für den sicherheitsverliebten Menschen schwierig, zumal die Experten angesichts des neuartigen Virus wenig wissen, sondern sich tastend voranbewegen, Theorien aufstellen, falsifizieren, erproben, umschwenken. Und so keimt da und dort wieder neues Misstrauen: Hinter den Gutachten wittern wir die Verschwörung, hinter den Experten Lügner, hinter den Studien dunkle Machenschaften.
Doch ganz abgesehen davon, dass es absolute Sicherheit nie geben wird: Hat aufs grosse Ganze gesehen nicht auch die Unsicherheit ihren Wert? Was würde es umgekehrt bedeuten, wenn alles gewiss wäre? Nichts mehr würde uns überraschen – weder im Guten noch im Schlechten. Es wäre ja stets alles einfach wie erwartet. Jeder wüsste garantiert, dass sein Kind gesund geboren, sein Engagement sich auszahlen, die Expedition glücken wird. Nicht nur müssten wir niemanden mehr vertrauen, wir bräuchten auch keinen Mut, etwas zu wagen, und keine Hoffnung, dass die Sache gut ausgehen wird. Wäre alles sicher, bräuchten wir letztlich weniger von dem, was uns zum Menschen macht und unser Leben möglicherweise auch in Spannung hält.