Vom Glück der Weitsicht

Ob im Berufs- oder im Privatleben: Immer wieder ist Weitsicht gefragt. Die einfachsten und schnellsten Lösungen sind selten die besten – und schon gar nicht die nachhaltigsten. Doch was beinhaltet weitsichtiges Handeln? Und was bringt es uns? Ein Einblick in die so wichtige Fähigkeit des Weitblicks.

Der Blick schweift vom Gipfelkreuz in die Ferne – bis zur nächsten Bergkette oder gar bis zum Horizont. Im Inneren breitet sich ein wohliges Glücksgefühl aus. Weitsicht macht aber nicht nur beim Wandern glücklich. Wer vorausschauend denkt, plant und handelt, besitzt die wichtige Fähigkeit, über den Tellerrand zu schauen. Das grosse Ganze im Blick zu behalten und sich nicht von den zeit- und kraftraubenden Herausforderungen des Alltags einnehmen zu lassen, ist ein entscheidender Glücks- und Erfolgsfaktor in der komplexen, unbeständigen und schnelllebigen Welt von heute.

Was macht Weitsicht aus?

Der Begriff Weitsicht sagt, was er meint: weit sehen – faktisch bis zum Horizont, im übertragenen Sinn darüber hinaus. Weitsicht ist die Fähigkeit, vorauszuschauen und sich bewusst zu machen, welche Auswirkungen Handlungen und Ereignisse haben könnten. Dazu gehört auch, zukünftige Entwicklungen sowie eigene Potenziale und Ressourcen zu erkennen und richtig einzuschätzen. Was sind Chancen und Risiken, die mit einer bestimmten Entscheidung verbunden sind? Welche Szenarien und Konsequenzen würden sich aus meiner Entscheidung und meinem Handeln ergeben? Was sind Alternativen? Welche konkreten vorausschauenden Massnahmen könnte ich treffen, die zum bestmöglichen Ergebnis führen? Durch das Einnehmen einer breiteren Perspektive und ein Hinausdenken über den aktuellen Kontext lassen sich im Hier und Jetzt fundierte Entscheidungen für die Zukunft treffen.

Wer zum Beispiel überlegt, in Wohneigentum zu investieren, wird als weitsichtiger Mensch abwägen, wie sich der Immobilienwert entwickeln kann, wie gross die Wahrscheinlichkeit ist, dass das Investment rentabel ist und wie sich die Investition auf die persönliche finanzielle Situation auswirken würde. Anhand dieser Überlegungen fällt er anschliessend die Entscheidung dafür oder dagegen. Weitsicht ist eng mit Reflexion verknüpft: Anstatt unbedacht, impulsiv und kurzfristig zu handeln, hinterfragt man bei jeder wichtigen Entscheidung kritisch: «Was wäre, wenn?».

« Wer eine Vision und definierte Ziele vor Augen hat, weiss, worauf der persönliche Fokus liegt.»

Wer weitsichtig denkt, vorausschauend plant und durchdacht handelt, kommt schneller zum Ziel. Foto Getty Images / Evgeny555

Alles eine Frage der Priorität

Die Betonung liegt auf wichtige Entscheidung. Denn tagein, tagaus müssen wir unzählige kleine Entscheidungen treffen. Sie sind notwendig, um im Alltag zurechtzukommen, haben jedoch selten gravierende oder langfristige Auswirkungen. Und doch beschäftigen wir uns viel zu häufig mit zeitraubenden Details, die nicht oberste Priorität haben. Der Alltag gleicht so schnell mal einer Aneinanderreihung von Tagen, in denen wir To-do-Listen abarbeiten und funktionieren, anstatt die Tagezu gestalten. Ein Alltag aber, der einem Korsett aus Ansprüchen und Forderungen gleicht, macht nicht glücklich. Zum Glücklichsein braucht es Raum zur freien Lebensgestaltung. Um sich diesen Raum zu verschaffen und das alltägliche Privat und Berufsleben besser zu organisieren, können erprobte Unterstützungen und bewährte Entscheidungsmethoden wie das Pareto-Prinzip oder die Prioritätenmatrix (siehe Infobox) helfen.

Den richtigen Fokus setzen

Doch wie sieht es bei den wichtigen, den grossen Lebensfragen und -entscheidungen aus? Nicht alles im Leben ist gleich wichtig oder gleich viel wert. Jeder Mensch hat seine eigenen Fokuspunkte, wenn es darum geht, zu bestimmen, was im Leben wichtig und bedeutsam ist. Konträr zu ihrer Wichtigkeit wird diesen Dingen aber oft nur wenig Zeit gewidmet – was selten auffällt, ist doch keine Zeit da, um darüber nachzudenken. Eindrücklich veranschaulichen konnte das ein Philosophieprofessor. Seine «Wertvolle Lektion für ein glückliches Leben» wurde in einem Video festgehalten und ging viral (siehe Infobox).   

Prioritätenmatrix

Die vom US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower (Amtszeit 1953– 1961) entwickelte Methode schärft den Blick auf das Wesentliche und hilft, Aufgaben richtig zu priorisieren. Die Matrix unterscheidet vier klare Kategorien, welche Aufgaben in «dringlich» und «wichtig» einteilen. Dabei gilt: Wichtigkeit vor Dringlichkeit. Aufgaben sinnvoll zu priorisieren und, wo angebracht, zu delegieren, resultiert in effektivem Zeitmanagement.

Das Pareto-Prinzip

Auch als 80/20-Regel bekannt, besagt das vom italienischen Ökonomen Vilfredo Pareto (1848–1923) aufgestellte Prinzip, dass man mit 20 Prozent von dem, was man tut, 80 Prozent des Ergebnisses erzielt. Anders formuliert: 80 Prozent eines Ergebnisses werden mit 20 Prozent Aufwand erreicht. Das bedeutet, dass man zum Erreichen der restlichen mageren 20 Prozent Ergebnis einen zeitlichen Aufwand von 80 Prozent hat. Für ein effektiveres Zeitmanagement sollte man Herausforderungen also weniger perfektionistisch angehen. Zu lange grübeln und zu viele Lösungsoptionen abwägen, kostet oft viel mehr Zeit als die Umsetzung selbst.
Foto: Creative Commons

Die vier Säulen der Weitsicht

Weitsicht umfasst verschiedenste Lebensbereiche. Die vier, die jeden Menschen betreffen, sind: soziale Kontakte, Gesundheit, Arbeit und Werte. Persönliche Beziehungen geben uns Kraft und sind das beste Mittel gegen das Alleinsein. Als soziale Wesen brauchen wir den Austausch mit anderen. Wer einen regelmässigen, positiven und umsichtigen Umgang mit Familie, Freunden und Kollegen pflegt, handelt weitsichtig und sorgt dafür, dass im täglichen Leben und in Krisenzeiten Menschen da sind, die einem unterstützend zur Seite stehen. Vorausschauend umgehen sollte man auch mit der eigenen physischen und psychischen Gesundheit. Man hat nur einen Körper, und den gilt es gut zu behandeln: regelmässig Sport treiben, sich gesund ernähren und auf das Wohlbefinden achten. Auch im Beruf ist Weitsicht entscheidend. Zwar weiss niemand, wie sich die Arbeitswelt entwickeln wird, doch ist klar: Der Arbeitsmarkt ist einem rasanten Wandel unterworfen. Wer weitsichtig agiert, verharrt nicht in wehmütigen Erinnerungen an die «guten alten Zeiten», sondern bleibt am Ball, interessiert sich für Entwicklungen in seinem Berufsfeld und bildet sich kontinuierlich weiter. Es braucht Weitblick, zu erkennen, was Priorität hat. Erst wenn man ab und zu anhält und einen Schritt zurücktritt, erkennt man hinter den Bagatellen des Alltags den grossen Lebensbogen, die persönlichen Ziele und Potenziale.

Die Ziellinie im Blick

Ohne Ziele driftet man ziellos durchs Leben. Das kann kurzfristig entspannend sein, weil man keine wichtigen Entscheidungen fällen und sich nicht festlegen muss. Langfristig kann sich das rächen: Dann nämlich, wenn man realisiert, dass man doch gerne woanders wäre. Das Berufs- oder Privatleben umzukrempeln, ist nicht unmöglich, aber ungleich schwieriger, als wenn man die entsprechende Richtung früher eingeschlagen hätte. Wer eine Vision und definierte Ziele vor Augen hat, weiss, worauf der persönliche Fokus liegt. Ziele – kurzfristige und langfristige – geben Orientierung, inspirieren und helfen, alltägliche Verpflichtungen besser zu priorisieren. Möchte zum Beispiel jemand Arzt werden, helfen Weitsicht und Zielsetzung, um die Karriere vorausschauend zu planen,sich auf potenzielle Herausforderungen vorzubereiten und die richtigen Entscheidungen im Hinblick auf die Entwicklung notwendiger Fähigkeiten zu treffen. Dank Weitsicht wäre der angehende Arzt motiviert, weiterzumachen, selbst wenn er im Studium mal knapp bei Kasse ist. Er wüsste, dass er für den gegenwärtigen Verzicht bald entschädigt wird. Nur: Zwischen Wünschen und konkreten Zielen liegen Welten. Vielen fällt es schwer, Ziele klar zu formulieren. Die SMART-Methode (siehe gegenüberliegende Seite) hat sich bewährt, um Menschen dabei zu helfen, die Ziellinie zu erreichen. Und gehen Ziele und Pläne auf, macht das – wie wir alle wissen – glücklich.

« Weitsicht ist eng mit Reflexion verknüpft.»

Neue Impulse einholen

Erfreulicherweise lässt sich Weitsicht trainieren. Je besser man sich selbst kennt, desto leichter fällt es. Wer sich darüber im Klaren ist, was einem schwerfällt, kann gegen blockierende Verhaltensmuster vorgehen. Reflektieren, Antizipieren und rechtzeitiges Gegensteuern sind hier die Schlagwörter. Es lohnt sich, die Perspektive zu wechseln, offen und neugierig zu bleiben, sich verschiedene Meinungen und Informationen zu einem Thema einzuholen. Weitsicht bedeutet, Augen und Ohren offen zu halten. Was passiert in meinem Umfeld? Was tut sich in anderen Ländern und Kulturen, und was bei anderen Generationen? Welche Erkenntnisse kann ich für mich und meine Zukunft nutzen? Sind meine Standpunkte noch zeitgemäss?

Auch im Berufsleben gilt es, sich zu hinterfragen. Bei einem grossen und längeren Projekt wie einem Bauvorhaben oder einem Forschungsauftrag sollte regelmässig überprüft werden, ob das Team auf dem richtigen Weg ist. Sich die Zeit zu nehmen und Sachverhalte zu überprüfen, ob in zwischenmenschlichen Beziehungen oder im Job, stellt zudem eine gewisse Qualität sicher. Denn es zeigt sich, dass man nicht mit der erstbesten Lösung zufrieden ist. So werden Entscheidungen und Handlungen nachhaltig.

 

Weitsicht für die Visionen von morgen

Mit Offenheit, Aufgeschlossenheit und Toleranz für andere Ansichten lassen sich neue Ideen aufnehmen und Visionen entwickeln. Das ist wichtiger denn je, ist doch unsere Welt im Wandel – und wir sind mittendrin. Um die Zukunft positiv zu gestalten, für den Einzelnen und für die Gesellschaft, sollten wir laut Zukunftsforschenden und Experten Meinungen und Ideen anderer zulassen, ohne gleich zu urteilen und abzulehnen. Die Zukunft mag ungewiss und beängstigend sein, und trotzdem oder gerade deshalb, so der Expertenkonsens, sollten wir den Veränderungen, die sie mit sich bringt, konstruktiv und positiv entgegensehen, anstatt sie als Problem und Gefahr zu betrachten. Für manche Menschen ist zum Beispiel der Klimawandel lediglich eine Gefahr. Andere sehen ihn als Chance, ist doch nichts ein grösserer Katalysator für Innovation wie der Druck, etwas verändern zu müssen. Genauso kann man künstliche Intelligenz als reine Gefahr oder aber als Perspektive ansehen.

Die SMART-Methode

Mit der SMART-Methode lassen sich private und berufliche Ziele klar definieren und gezielt umsetzen. Das Prinzip schärft den Fokus für die einzelnen Schritte der Zielerreichung und reduziert so die oftmals überfordernde Komplexität einer Aufgabe. Jeder Buchstabe steht für eine wichtige Zieleigenschaft.

Was haben Golfbälle mit Glück zu tun

Ein Philosophieprofessor erteilte seinen Studenten eine anschauliche Lektion. Er füllte ein grosses leeres Gefäss bis oben hin mit Golfbällen. «Ist das Glas voll?» fragte er die Studenten, welche dies bejahten. Dann schüttete der Professor Kieselsteine dazu und schüttelte das Gefäss. Die Kieselsteine rollten in die Zwischenräume der Golfbälle. Erneut fragte er die Studenten, ob das Glas voll sei. Sie stimmten zu. Nun schüttete der Professor Sand hinein, welcher sich wiederum in den übrigen Zwischenräumen verteilte.

«Das Glas steht für Ihr Leben», erklärte der Professor. «Die Golfbälle sind die wichtigen Dinge: soziale Beziehungen, Gesundheit, Lebensziele. Die Kieselsteine stehen für weniger wichtige Dinge wie Arbeit, Wohnung oder Besitz. Der Sand symbolisiert die kleinen Dinge im Leben. Würde man den Sand zuerst einfüllen, bliebe kaum Platz für die Kieselsteine und die Golfbälle. Wenn man seine Zeit für die unbedeutenden Dinge verbraucht, bleibt keine Zeit mehr für die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Setzen Sie Prioritäten und kümmern Sie sich zuerst um die wichtigen Dinge. Der Rest ist nur Sand.»

Die «Moral von der Geschicht» kann übrigens nicht nur auf das Leben, sondern genauso auf das Zeitmanagement angewendet werden.
Foto: Getty Images / artpartner-images / Kulikova Anna

Video «Eine wertvolle Lektion für ein glückliches Leben»

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