Tieren respektvoll begegnen
Als Direktor des Zoos Zürich leitet Dr. Severin Dressen die meistbesuchte Freizeit- und Bildungseinrichtung der Schweiz. Eine grosse Aufgabe mit dem Ziel, Artenvielfalt und Lebensräume zu schützen. Ein Gespräch über Begegnungen, die Vermenschlichung von Tieren und den Nacktmull.
Herr Dressen, erinnern Sie sich an eine Begegnung mit einem Tier, die Ihr Leben geprägt hat?
Da gibt es sehr viele. Als Kleinkind hat mich die Erdkröte begeistert. Später waren es die Momente, in denen ich die Möglichkeit hatte, mit Tieren zu arbeiten. Zum Beispiel war ich ein halbes Jahr in einem Nationalpark in Argentinien und ritt dort täglich mit dem gleichen Pferd aus. Über die Zeit lernten wir uns immer besser kennen und es baute sich eine Beziehung auf. Das fasziniert mich. Auch bei der Arbeit als Tierpfleger hatte ich die Gelegenheit, Tieren aus der Nähe zu begegnen, die man normalerweise nur von Weitem sieht. Als ich das erste Mal einem Elefanten so nah war, dass ich die Hautstruktur und die Härchen sehen konnte, seinen Atem spürte und mein Körper mitvibrierte – das war eine absolut eindrückliche Erfahrung.
Woher stammt Ihre Faszination für Tiere und Natur?
Die Natur ist unglaublich. Kürzlich flog eine Libelle bei uns ins Haus und meine Kinder und ich haben sie beobachtet. Die Flügelkonstruktion ist ein Wunder. Bei der Libelle genauso wie bei der als lästig empfundenen Fliege. Im Alltagsstress gehen wir leider zu selten mit offenen Augen durch die Natur. Um faszinierende Natur zu erleben, muss man nicht nach Afrika fliegen. Wenn man bei uns nach draussen geht und sich bewusst umsieht, erkennt man, dass die Natur phänomenal ist. Das hat mich schon immer begeistert.
Gibt es ein bestimmtes Tier im Zoo Zürich, zu dem Sie eine besondere Verbindung haben?
Um auch den Underdogs der Tierwelt eine Stimme zu geben: der Nacktmull. Eine Giraffe, einen Gorilla oder einen Königspinguin findet man schnell toll, doch der eher unattraktive Nacktmull hat eine unglaublich spannende Biologie. Es sind hochsoziale Tiere. Der Nacktmull hat einen besonderen Platz in meinem Herzen.
Wie definieren Sie erfolgreiche Begegnungen zwischen Mensch und Tier?
Hier haben wir ein Grunddilemma: Auf der einen Seite funktionieren wir Menschen nach dem simplen Prinzip, dass wir das schützen, was wir kennen und mögen. Im Zoo versuchen wir deshalb, emotionale Momente für unsere Gäste zu kreieren und sie für die Schönheit der Tierwelt zu begeistern. Ziel ist es, ihnen zu zeigen, dass die Tierwelt schützenswert ist. Auf der anderen Seite müssen wir aufpassen, dass wir die Tiere nicht vermenschlichen und die Begegnungen, die wir kreieren, nicht negativ für die Tiere sind. Ein Beispiel: Bei uns kann man Giraffen füttern, und das ist für die Menschen ein eindrucksvolles Erlebnis, weil sie so nah an diese wunderschönen Tiere kommen. Gleichzeitig wollen wir auf keinen Fall, dass die Giraffen darauf konditioniert werden, zu den Menschen zu gehen. Das wäre eine Art der Haltung, für die wir nicht stehen. In diesem Kontext ist es also wichtig, dass das Futter auch an vielen anderen Stellen in der Anlage angeboten wird. Das Tier muss die Wahl haben und freiwillig kommen – nicht, weil es Hunger hat. Das kann durchaus bedeuten, dass die Giraffe zum Fressen woanders hingeht
«Das Tierwohl steht an erster Stelle.»
Wie fördert der Zoo Zürich solche Begegnungen?
Ich denke, dass Begegnungen authentischer sind, wenn wir die Menschen in die Lebensräume der Tiere mitnehmen. Im Masoala Regenwald, und in einigen Jahren auch in der neuen Pantanal Voliere, ist man mittendrin und teilt sich den Lebensraum mit den Tieren. Die Tiere im Masoala Regenwald sind per se langweilig: Enten, Echsen, selbst die Chamäleons – wären sie im Terrarium, würde man kurz reingucken und weitergehen. Doch in dem Moment, wo man sie selbst findet, ohne Barriere, ist man Entdeckerin und Entdecker. Das ist etwas völlig anderes. Das sind die Begegnungen, die wir ermöglichen wollen.
Mit Begegnungen entstehen Bindungen. Gleich zu Beginn Ihres Antritts als Zoodirektor mussten Sie einige Tiere verabschieden. Wie gehen Sie damit um, wenn ein Tier im Zoo Zürich stirbt?
Ich persönlich kann gut damit umgehen. Ich begeistere mich für die Tiere, habe aber keine individuelle Bindung zu ihnen. Ich manage ein KMU mit 548 Mitarbeitenden. Bei unseren Gästen ist das sicherlich anders. Doch der Zoo ist kein Tierheim, unsere Aufgabe ist es, Arten zu erhalten. Teils müssen wir Tiere, für die im Rahmen der Reserve-Population woanders kein Platz besteht oder die zum Beispiel aufgrund der Genetik oder des Alters nicht mehr aktiv zum Arterhalt beitragen können, töten. Sie werden dann verfüttert oder stehen der Forschung zur Verfügung. Das macht niemandem Spass, ist aber notwendig.
Wie sehen Sie die Funktion von Zoos in der heutigen Gesellschaft?
Wenn es Zoos im Jahr 2024 nicht gäbe, müssten wir sie erfinden, denn sie sind wichtiger denn je. Wir haben eine Biodiversitätskrise. Zoos haben als einzige Institutionsform das Potenzial, auf vier verschiedene Arten etwas dagegen zu tun. Artenschutz, Naturschutz, Bildung und Forschung: Das sind die vier Pfeiler für die Existenz moderner Zoos. Keine andere Einrichtung kann gleichzeitig zu allen vier Aspekten beitragen. Gemeinnützige Organisationen leisten hervorragende Naturschutzarbeit, sie haben aber nicht das Know-how, um mit Reservepopulationen gefährdete Arten zu schützen und zu erforschen. Eine Universität kann Forschung zur Biodiversität betreiben, das Wissen erreicht aber viele Menschen nicht. Das alles kann nur ein Zoo. Und damit meine ich die modernen, wissenschaftlich organisierten Zoos, die im Europäischen Dachverband EAZA (European Association of Zoos and Aquarium) akkreditiert sind.
Welche Bildungsziele verfolgt der Zoo Zürich?
Unsere Gäste kommen in der Regel nicht zu uns, weil sie etwas lernen wollen. Sie kommen, um eine schöne Zeit zu haben. Das heisst, der Erholungs- und Erlebnisfaktor ist zentral, und das ist vollkommen legitim. Wir halten die Tiere aber nicht, damit die Gäste eine gute Zeit haben. Die 1,4 Millionen Menschen, die jährlich zu uns kommen, tragen zum Arten- und Naturschutz, zu Bildung und Forschung bei. Das sind die Gründe für die Daseinsberechtigung des Zoos. Das ist ein Riesenpotenzial. Die positive Emotionalität, die ein Besuch auslöst, möchten wir zukünftig noch mehr aufgreifen und aufzeigen, was jeder Einzelne für den Schutz der Artenvielfalt tun kann. Bei Führungen schaffen wir das bereits heute sehr gut. Wir haben ein tolles Team von hochmotivierten Führerinnen und Führern, die das genial machen. Bei den 99 Prozent der Gäste, die nur durchlaufen, können wir uns noch verbessern. Daran arbeiten wir.
«Die 1,4 Millionen Menschen, die jährlich zu uns kommen, tragen zu Arten-, Naturschutz, Bildung und Forschung bei.»
Wie balancieren Sie das Bedürfnis der Zoogäste nach Nähe zu den Tieren mit dem Wohl der Tiere?
Das Tierwohl steht an erster Stelle. Die Anlagen sind so beschaffen, dass sie gut für die Tiere sind. Es gibt grosse Anlagenteile, in denen die Tiere gar nicht einsehbar sind. Man muss sich Zeit nehmen, wenn man sicher ein Tier entdecken möchte. Der Grossteil unserer Gäste hat aber auch nicht die Erwartungshaltung, dass ihnen die Tiere auf dem Serviertablett präsentiert werden. Gleichzeitig wurde uns während der Pandemie bestätigt, dass in den modernen Anlagen die Präsenz – oder Nichtpräsenz – der Gäste keinerlei Auswirkungen auf die Tiere hatte. Ihr Verhalten hat sich im Lockdown nicht verändert. Einige wenige Arten wie die Gorillas haben die Menschen vermisst. Das liegt jedoch daran, dass sie mit der Hand aufgezogen wurden – eine Praxis, die wir heute nicht mehr machen.
Welche Rolle spielen digitale Technologien bei der Gestaltung von Begegnungen?
Alles, was uns dabei unterstützt, unsere Gäste zu begeistern und ihnen Informationen zu vermitteln, prüfen wir. Vorrangig möchten wir Inhalte über unsere App anbieten. Damit lässt sich die Herausforderung der Mehrsprachigkeit am besten lösen. Gleichzeitig bietet die App grosses Potenzial für Augmented Reality. Wir befinden uns aktuell in der Evaluationsphase und prüfen verschiedene Produkte. Qualitativ überzeugt wurden wir bisher noch nicht. Wenn wir die Natur abbilden wollen, muss es gut sein. Auch Virtual Reality ist spannend, doch solange es gerätegebunden ist und nicht über die eigene Brille läuft, ist VR nur punktuell bei Führungen einsetzbar, aber nicht massentauglich. An Spitzentagen haben wir 10’000 Gäste bei uns im Zoo.
Artensterben, Umweltzerstörung, Klimawandel: Wie kann Ihrer Meinung nach ein nachhaltiges Miteinander von Mensch und Natur gestaltet werden?
Das ist eine grosse Frage. Das Grundproblem ist, dass es Prozesse betrifft, die nicht unmittelbar sichtbar sind. Für uns Menschen ist das, was vor unseren Augen passiert, viel wichtiger. Klimawandel geschieht über eine lange Zeit. Die Biodiversitätskrise ist komplex und wir wissen bei vielen Arten nicht, welche Rolle sie genau im Ökosystem einnehmen und welchen Einfluss es hat, wenn Sie aussterben. Wenn wir es herausfinden, wird es bereits zu spät sein. Nun gibt es zwei Grundphilosophien, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Das erste ist Verzicht. In westlichen Gesellschaften, und ich selbst nehme mich hier nicht aus, haben wir einen Lebens- und Ressourcenstandard, der beispiellos ist. Verzicht ist für uns sehr schwierig: selbst für die eigene Gesundheit, geschweige denn für das Klima. Das zweite ist die Technologie: die Idee, dass uns technologische Errungenschaften retten werden. Wahrscheinlich liegt die Lösung irgendwo in der Mitte. Ich denke jedoch, dass wir in vielen Bereichen die Schwelle überschritten haben, und uns eingestehen müssen, dass es die unberührte Natur nicht mehr gibt. Wir neigen zur Romantisierung der Natur und vergessen, dass heutige Naturräume von Menschen dominiert sind. Was bleibt, ist, genügend Schutzräume zu schaffen, in denen die Natur mit uns koexistieren kann.
«Artenschutz, Naturschutz, Bildung und Forschung: Das sind die vier Grundpfeiler für die Existenz moderner Zoos.»
Welche Projekte laufen im Zoo Zürich, um dessen Funktion als Begegnungs-, Schutz- und Edukationsraum weiter zu stärken?
In Kürze eröffnen wir eine Forschungsstation mit klimakontrollierten Räumen, in denen Forschende nationaler und internationaler Universitäten tätig sein werden. Hier erhalten unsere Gäste Einblicke in die Forschung und Zucht gefährdeter Frösche, Fische, Reptilien und Insekten. Gerade auch Kindern möchten wir die Wichtigkeit von Forschung für die Biodiversität spielerisch näherbringen. Ein neuer Lebensraum mit immersivem Charakter entsteht mit Panterra, unserer neuen Anlage für Grosskatzen. Mittels Rotationsprinzip bleiben die Katzen in ihrer Art unter sich, nutzen aber im Wechsel alle vier Bereiche der Anlage, was für Abwechslung sorgt. Zusätzlich fördern Jagdsimulationen das natürliche Verhalten der Tiere. Neu ist auch der Insektenwald, den wir im ehemaligen Löwenhaus bauen. Ohne trennende Glasscheiben werden dort hautnahe Begegnungen mit vielzähligen Krabblern ermöglicht – für Mutige ohne Insektenphobie. Und schliesslich unser grösstes Projekt aktuell: das Pantanal, eine Voliere für südamerikanische Tiere. Wie im Masoala Regenwald werden Besucherinnen und Besucher das gleichnamige südamerikanische Feuchtgebiet am Wasser und aus der Höhe erleben können und immersive Begegnungen mit den Tieren inmitten ihres Lebensraums haben.