Nähe oder Abgrenzung
Als Soziologin und Planerin beschäftigt sich Joëlle Zimmerli oft mit Fragen des Zusammenlebens. Sie ist überzeugt, dass eine intelligente Siedlungsentwicklung eine gute Nachbarschaft fördert.
Was für Nachbarn haben Sie?
Ich habe eine gemischte Nachbarschaft: sechs Wohnnachbarn und im unteren Stock Büros. Man begegnet sich im Treppenhaus, man kennt sich.
Dann leben Sie städtisch anonym?
Nein, ich kenne meine Nachbarn. Anonymität ist ein schwieriger Begriff. Aus meinen Studien sieht man, dass es zwar weniger nachbarschaftliche Kontakte gibt in der Stadt, aber immer noch recht viel Austausch. Anonymität ist in der Schweiz eigentlich kein Thema. Es ist natürlich einfacher, sich in einem Mietblock den Kontakten mit Nachbarn zu entziehen als in einem Einfamilienhausquartier. Die Frage ist, wie intensiv man sich miteinander auseinandersetzt. Man verabredet sich vielleicht mit Nachbarn nicht zum Znacht. Trotzdem kann ein Nachbar während der Ferien Blumen giessen.
Wie sind Sie aufgewachsen?
In einem Quartier mit Zweifamilienhäusern, wo man sich relativ gut kannte. Die Abgrenzung ist an solchen Orten aber auch recht stark. Es gibt den eigenen Garten und daneben den des Nachbarn, und dorthin darf man als Kind nicht gehen. Als Kind hält man sich gern in den Erschliessungsräumen zwischen den Häusern auf, das sind die interessanten Nachbarschaftsräume.
Wird das Thema Nachbarschaft angesichts der Verdichtung wichtiger?
Nein, in einem Einfamilienhausquartier war und ist Nachbarschaft ein dominantes Thema, obwohl es eine der am lockersten bebauten Siedlungsformen ist. An Bedeutung gewinnt aber das Thema Abgrenzung. Wichtiger wird auch die Frage, wie man es schafft, dass in absehbarer Zeit nachbarschaftliche Netzwerke und Leben entsteht, wenn man eine Grosssiedlung baut und auf einmal 200 bis 300 Leute einziehen. Nachbarschaft wird nicht generell wichtiger, aber man muss sich andere Gedanken darüber machen.
Wie plant man denn eine Siedlung, damit das Zusammenleben stimmt?
Es gibt keine Pauschalantwort. Es kommt darauf an, wo diese Siedlung steht: im Dorf, in der Agglomeration, in der Stadt – und wo innerhalb der Stadt. An einer sehr durchmischten Lage im Stadtzentrum haben Sie automatisch eine starke Einbindung in ein Umfeld. Wichtig sind generell Erschliessungswege, auf denen man sich im Aussenbereich begegnen kann. Nachbarschaftstreibend sind eigentlich immer Kinder. Sie spielen miteinander, als Folge haben auch die Eltern miteinander zu tun. Ein Familienanteil fördert also nachbarschaftliche Kontakte. Schwieriger ist die Frage, wie Nachbarschaft unter Erwachsenen entsteht und welche gemeinschaftlich nutzbaren Räume man für Erwachsene schaffen kann. Solche Räume müssen häufig bewirtschaftet werden.
Es lohnt sich also, in das nachbarschaftliche Zusammenleben innerhalb einer Siedlung zu investieren?
Ja. Liegenschaften an weniger guten Standorten können dadurch konkurrenzfähiger werden, oder der Eigentümer kann die Wohnungen etwas teurer vermieten. In der Tendenz reduziert sich auch die Fluktuation der Mieter, die Leute werden sesshafter.
«Man muss die Balance zwischen Nähe und Distanz finden. Je näher man sich kommt, um so grösser ist auch das Konfliktpotenzial.»
Zurzeit entstehen viele neue dichte Siedlungen. Wie findet man da das richtige Verhältnis zwischen Nähe und Abgrenzung?
Wenn Menschen näher zusammenwohnen, braucht es eine stärkere physische Abgrenzung. Der Privatraum mit seinen Rückzugsmöglichkeiten ist etwas vom Wichtigsten. Das Einfamilienhauskonzept der raumhohen Fenster passt häufig nicht in Siedlungen mit geringen Abständen, insbesondere im Erdgeschoss. Es ist unangenehm, wenn man durch die Siedlung läuft und dem Nachbarn auf den Tisch schaut. Die erste Reaktion der Mieter in zu offenen Wohnungen ist, sich abzugrenzen. Sie hängen Vorhänge oder Matten auf. Die entscheidende Frage ist: Wie kann Architektur Rahmenbedingungen schaffen, damit möglichst wenig individuelle Abgrenzung nötig ist?
Welche Rolle spielt die Zusammensetzung einer Siedlung?
Je grösser eine Siedlung wird, umso wichtiger ist eine gute Durchmischung, quer durch verschiedene Altersruppen und Einkommensschichten. Je kleiner eine Siedlung ist, umso besser muss die Nachbarschaft zueinander passen. In einem städtischen Umfeld sind die Leute weniger empfindlich, weil sie besser ausweichen können. In Wohnquartieren ist das Bedürfnis grösser, dass man sich mit der Nachbarschaft insbesondere im Haus identifizieren kann. Hier stellt sich die Frage, was der gemeinsame Nenner ist.
Welche Rolle spielt das Verhältnis zum Nachbarn für mein Wohlbefinden?
Das Wichtigste ist eine konfliktfreie Nachbarschaft. Nun fragt es sich, wie man das erreicht. Die einen wollen mit den Nachbarn möglichst nichts zu tun haben. Ihnen reicht ein knapper Gruss. Für andere ist es konfliktfrei, wenn man gut miteinander auskommt, und die Dritten finden es lässig, wenn man viel miteinander zu tun hat. Man muss die Balance zwischen Nähe und Distanz finden. Je näher man sich kommt, um so grösser ist auch das Konfliktpotenzial.
In Einfamilienhausquartieren gibt es mehr Nachbarschaftskonflikte, in der Stadt sind die Leute toleranter. Würden Sie dieser These zustimmen?
Im Einfamilienhausquartier ist das Konfliktpotenzial sicher höher. Andererseits kann man eher Freundschaften schliessen, weil man viele Jahre nebeneinander lebt. In der Stadt kann man einander besser ausweichen. Hier gibt es andere Konfliktherde, etwa die Waschküche oder Kinder, die laut sind. Und gerade ältere Personen nutzen Reibungsflächen mit den Nachbarn auch, um eine Gelegenheit zu haben, mit jemandem ins Gespräch zu kommen, beispielsweise mit der Verwaltung.
Wie sieht Ihre ideale Siedlung aus?
Sagen Sie mir, wo diese Siedlung steht, und ich kann Ihnen eine Antwort geben. Die Bedürfnisse der Mieter sind unterschiedlich. Bei grösseren Arealen ist es das Wichtigste, dass Eigentümer für eine gewisse Durchmischung sorgen. Entscheidend ist der Erstvermietungsprozess. Oft wird viel zu wenig Wert daraufgelegt, wie die Zusammensetzung der Mieter ist. Normalerweise erhält die Verwaltung den Auftrag, die Wohnungen möglichst schnell zu füllen, so können dann Siedlungen mit lauter 24- bis 35-Jährigen entstehen. Diese sind sehr mobil, arbeiten am Tag und wechseln häufiger den Job. Das hat dann zur Folge, dass die Siedlung nicht belebt ist und Mieter häufig wechseln. Dank Durchmischung wird eine Siedlung stabiler und belebter. Dies ist auch im Interesse des Eigentümers.