Es geht wieder mehr ums Überleben
Lässt sich Weitsicht überhaupt noch mit unserer schnelllebigen Zeit vereinbaren? Zukunftsforscher Dr. David Bosshart erklärt im Gespräch, wieso langfristiges Denken unabdingbar ist, wie es uns gelingen kann, das grosse Ganze im Blick zu behalten, und wieso wir uns wieder mehr mit der Frage beschäftigen, wie wir überleben können.
Als Zukunftsforscher beschäftigen Sie sich professionell mit Entwicklungen, die unser künftiges Leben beeinflussen. Wie gelingt es, kurzfristige Trends von nachhaltigen Entwicklungen zu unterscheiden?
Ich wünschte mir, dass sich mehr Menschen diese Frage stellen. Ein Zukunftsforscher ist im Prinzip ein umgekehrter Historiker. Er versucht, eine wahrhafte Geschichte der Zukunft zu erzählen, so wie der Historiker versucht, eine wahrhafte Geschichte der Vergangenheit zu erzählen. Um Aussagen über die Zukunft zu treffen, muss man sehr viel über die Geschichte wissen – die Geschichte der Technologie, der Gesellschaft, der Wirtschaft, des Konsums, der Infrastrukturen. Zudem müssen wir sowohl die Vogel- als auch die Mausperspektive einnehmen, das heisst die Mikroebene der Menschen und wie sie sich verhalten. Es wird immer schwieriger festzustellen, was in einer vernetzten Welt wirkliche Trends sind. Denn in der heutigen Zeit leben wir – auch unter dem Druck, Wachstum zu generieren – vermehrt unter dem Diktat der «Trevents». Das sind Events, die, häufig zu Marketingzwecken, als Trends inszeniert werden. Das lässt sich besonders gut in den sozialen Medien beobachten. Es wird kurzfristig etwas hochgehypt und dann wieder vergessen. Ein Beispiel sind Fleischersatzprodukte, die auf Social Media propagiert werden. Das suggeriert, dass es einen klaren Trend zum Fleischverzicht gibt. Das stimmt so aber nicht, denn insgesamt steigt der traditionelle Fleischkonsum über die nächsten Jahrzehnte weiterhin markant.
Wie können wir trotz dem ständigen Grundrauschen, dem wir ausgesetzt sind, den Blick für das grosse Ganze im Leben und im Beruf behalten?
Zuerst müssen wir alle – Sie und ich, die Chefs von Unternehmen, Politiker – akzeptieren, dass wir überfordert sind. Wir entdecken schneller neue Herausforderungen, als dass wir gute Lösungen bereithaben. Nur wenn wir das akzeptieren, können wir vorwärtsgehen. Wir werden nicht an der technologischen oder der wirtschaftlichen Komplexität scheitern, sondern an der sozialen Komplexität. Wie wir uns organisieren und wie wir miteinander umgehen, ist letztendlich entscheidend dafür, ob wir überleben können.
Es geht also ums Überleben?
Wir fragen uns bewusst oder unbewusst wieder vermehrt, wie wir überleben können, und weniger, wie wir noch etwas besser leben können. Wir bewegen uns wieder weg von der Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung hin zu den Grundbedürfnissen wie Zugehörigkeit, Sicherheit und Identität. Letztendlich geht es immer ums Urvertrauen und darum, wie eine Gesellschaft mit den aktuellen Ungewissheiten auf familiärer Ebene umgeht. Entscheidend ist deshalb vor allem das direkte Umfeld. Menschen sind auch räumliche Wesen, die in vertrautem Umfeld mit Menschen zusammen sein wollen, denen sie Respekt entgegenbringen. Wenn ich mit tollen Menschen an spannenden Projekten arbeite oder in einer Partnerschaft bin, Kinder habe und sinnvolle Dinge tun kann, ist mein Leben in Ordnung. Es ist extrem wichtig, dass die Menschen das Gefühl haben, dass sie noch etwas bewegen können und nicht nur Getriebene von Umständen sind, die sie nicht mehr beeinflussen können.
Warum ist Weitsicht wichtig, und wie können wir Weitsicht entwickeln?
Ohne Druck passiert gar nichts, und zu viel Druck fördert irrationale Formen der Angst. Es braucht einen bestimmten Mindset, wie man heute sagt, also Haltung, Halt und die Bereitschaft, mit unterschiedlichsten Perspektiven produktiv umzugehen. Dann fällt auch das Erlernen von Skills leichter. Lernfähig bleiben ist der Schlüssel. Die digitale Entwicklung suggeriert, dass per Knopfdruck alle Antworten verfügbar sind. Das ist aber dumm und naiv. Wir müssen uns schon auch selbst anstrengen: Lernen ist ein permanenter Konflikt zwischen lustvoller Kreativität, steriler Anpassung und Konformitätsdruck. In der Ausbildung müssen wir es schaffen, die Menschen so weit als möglich zur Eigenverantwortung und Individualität hin zu entwickeln. Als Online- Menschen definieren wir alles sehr abstrakt und künstlich. Menschen werden in Klasse, Nationalität, Rasse, Ethnie, Geschlecht und Religion eingeteilt und dann bewertet. Das macht die Welt nicht friedlicher. Die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen sollte nicht die Basis von Urteilen sein. Sonst verharren wir im emotionalen Schlagabtausch und in der Polarisierung, statt an praktischen Lösungen zu arbeiten.
Sollen wir angesichts der Unsicherheiten besser im Hier und Jetzt leben, anstatt langfristige Ziele zu verfolgen?
Bitte immer die langen Linien verfolgen und gleichzeitig an den Herausforderungen im Alltag weiterarbeiten, statt sich alarmistisch oder dekadent zu verhalten. Aktivisten, die sich an der Strasse festkleben und Schlagwortalarmismus predigen, tragen nicht zur Lösung von praktischen Problemen bei. Andererseits entfliehen Elon Musk und Jeff Bezos der Realität – statt den Mars kolonialisieren zu wollen oder den Massentourismus ins Weltall zu fördern, sollten wir lieber konkrete Probleme lösen.
Was raten Sie Menschen, die um ihre Perspektive bringen?
Man kann zum Beispiel drei Monate in ein Kloster gehen und lernen, was Stille bedeutet. Wir halten praktisch keine Stille mehr aus. Nach spätestens zehn Sekunden zücken wir das Handy. Gute Bücher lesen, insbesondere Klassiker, hilft auch, weil man sich dadurch besser kennenlernt. Man kann aber auch eine lange Reise machen, um wieder besser zu sich zu finden. Oder mit Lust und Hingabe einen schönen Garten mit Pflanzen und Gemüse pflegen. In der Wirtschaft wird oft der kurzfristige Erfolg stärker belohnt als weitsichtiges Handeln.
«Es ist extrem wichtig, dass die Menschen das Gefühl haben, dass sie noch etwas bewegen können..»
Ein weiterer Megatrend ist die Digitalisierung. Werden Gebäude künftig von Robotern erstellt?
Das gibt es schon in Ansätzen. Ein Roboter, der eine Mauer baut, ist natürlich viel schneller als ein Mensch. Für einfache, hoch standardisierte Bauten wie Container Stores oder Tiny Houses kann ich mir das gut vorstellen. Doch die Skalierung bei komplexen Bauten ist noch in weiter Ferne. Es wird noch lange Menschen für die Schnittstellen brauchen. Zudem sind die Digitalisierung und somit auch die Automatisierung anfällig für Ausfälle. Wenn die Menschen nicht das Vertrauen haben, dass die Technologie funktioniert und einfach zu bedienen ist, dann geht es viel länger, bis sie akzeptiert wird.
Wie verändern neue Technologien wie Smart Home und Smart Living das Wohnen?
Menschen wollen Convenience. In Neubauten gibt es viele Optionen, mit Lichtschranken, Fingerabdrücken usw. Gleichzeitig stellen sich die Menschen immer häufiger die Frage, was passiert, wenn die Systeme gehackt werden und ausfallen. Man sucht dann die analoge Sicherheit. Wenn die Energiesysteme ausfallen, brauche ich einen Notgenerator. Die Schweizer sind extrem sicherheitsbedürftig. Aber eine digitale Welt basiert auf Wahrscheinlichkeiten. Die Kernfrage hinsichtlich Digitalisierung ist also, wie viele Risiken wir eingehen wollen. Ich glaube schon, dass diese Lösungen sich durchsetzen werden, aber digital heisst immer auch verwundbar. Dessen müssen wir uns bewusst sein.
Wie können Unternehmen die Weitsicht in ihrer Organisation fördern?
Kurzfristigkeit ist tödlich. Man ist heute stark unter Druck, permanent Wachstum zu generieren, weil der Shareholder Value und die Externalisierung von Kosten immer wichtiger geworden sind. Es braucht klugen, weitsichtigen Pragmatismus und mutige Entscheidungen. Wir müssen nicht verzichten, sondern wieder das richtige Mass finden und den Mut haben, nicht einfach andere zu imitieren. Wir werden dafür bezahlt, um Probleme sach- und menschengerecht zu lösen.
Die Nachhaltigkeit ist ein Megatrend, der auch für die Baubranche von Bedeutung ist. Wie wird die Entwicklung das Bauen verändern?
Wir sind immer noch tief in der Welt der fossilen Brennstoffe. In der Bauindustrie spielen Stahl, Beton, Zement und Plastik eine zentrale Rolle, die Dekarbonisierung wird sehr anspruchsvoll und teuer. Aber es gibt kleine Fortschritte und auch die Baubiologie wird wichtiger. Die Begrünung von Bauten, gerade in Städten, nimmt zu. In der Summe: Nachhaltiges Bauen ist sehr teuer – wer zahlt? Besonders wenn man bedenkt, dass sich die Mittelschicht schon heute kein Eigentum mehr leisten kann.
«Der Mensch gehört in einen Raum, in dem er sich wohlfühlt, und er gehört mit Menschen zusammen, denen er vertraut..»