Die Verwaltung muss die Eigentümer beraten
Warum sich Gemeinschaften schon früh nach dem Bezug Gedanken über künftige Sanierungen machen sollen und wie sie sich optimal darauf vorbereiten, erklären unsere Experten im Gespräch.
Immer mehr Stockwerk-Liegenschaften kommen in ein Alter, in dem umfassende Erneuerungen nötig werden. Warum sich Gemeinschaften schon früh nach dem Bezug Gedanken über künftige Erneuerung machen sollen und wie sie sich am besten darauf vorbereiten, erklären Stefan Bruni, Dozent und Projektleiter an der Hochschule Luzern, Walter Hochreutener, Leiter Immobilienbewirtschaftung und Beat Stocker, Leiter Projektentwicklung / Generalunternehmung der Alfred Müller AG.
Regelmässig liest man vom Sanierungsstau beim Stockwerkeigentum. Gibt es diesen wirklich?
Stefan Bruni: Alle reden vom Sanierungsstau, aber es gibt gar keine klare Definition für diesen Begriff. Es fehlen auch empirische Studien, die untersuchen, ob dieses Problem bei Stockwerk-Liegenschaften grösser ist als bei anderen Gebäuden. Viele Indizien weisen nämlich darauf hin, dass der Sanierungsstau nicht nur Stockwerkeigentum, sondern auch Mietliegenschaften und Einfamilienhäuser betrifft. Beim Stockwerkeigentum besteht einfach die zusätzliche Herausforderung, dass eine Gemeinschaft über die Sanierung befinden muss.
Wann müssen Eigentümer mit den ersten umfassenden Sanierungsmassnahmen rechnen?
Walter Hochreutener: Das ist sehr unterschiedlich und hängt von verschiedenen Faktoren ab. Generell kann man sagen, dass nach 15 bis 25 Jahren grössere Renovationen anfallen.
Beat Stocker: Man muss unterscheiden zwischen Unterhaltsarbeiten, die kontinuierlich gemacht werden müssen, und Renovationsarbeiten. Wird eine Liegenschaft professionell unterhalten, schlägt sich dies positiv auf die Lebensdauer von Materialien nieder. Umgekehrt kann mangelnder Unterhalt grosse Folgekosten haben – zum Beispiel wenn Kittfugen nicht gepflegt werden. Beides – Unterhalt und Renovation – muss geplant und sorgsam ausgeführt werden, um den Werterhalt einer Immobilie zu gewährleisten.
Stefan Bruni: Es stimmt, dass Käufer von neuen Eigentumswohnungen 15 bis 25 Jahre Zeit haben, um das Kapital für grössere Renovationen anzusparen. Wenn jedoch Mietwohnungen in Stockwerkeigentum umgewandelt werden oder je- mand eine ältere Eigentumswohnung erwirbt, können diese Kosten schon wenige Jahre später anfallen. Wer eine solche Wohnung kauft, ist gut beraten, genau zu prüfen, ob ihr Preis mit dem Gebäudezustand übereinstimmt, ob ein Erneue- rungsfonds vorhanden ist und wie stark dieser geäufnet wurde.
Ein Ersatzneubau ist auch beim Stockwerkeigentum möglich.
Sind Stockwerkeigentümergemeinschaften vorbereitet, wenn ihre Liegenschaft ins Renovationsalter kommt?
Walter Hochreutener: Das hängt stark von der einzelnen Gemeinschaft ab. Als Verwalterin spricht die Alfred Müller AG Unterhalts- und Erneuerungsthemen an den Versammlungen regelmässig und frühzeitig an. Dabei erleben wir Gemein- schaften, die unseren Empfehlungen folgen, und solche, die dies nicht tun.
Beat Stocker: Wir beobachten, dass sich Stockwerkeigentümer zum Teil wie Mieter verhalten. Sie negieren, dass sie ihr Eigenkapital nicht nur in die eigene Wohnung, sondern in die ganze Liegenschaft gesteckt haben. Eine gute Instandhaltung des Gebäudes ist in ihrem Interesse.
Stefan Bruni: Das Problem ist, dass viele Eigentümergemeinschaften keine Voll- kostenrechnung machen und auch keine langfristige Objektstrategie verfolgen. Eine gute Verwaltung weist sie darauf hin, das ist klar. Es gibt aber Gemeinschaften, die sich für eine günstige Verwaltung entscheiden, im schlimmsten Fall für eine, die dieses Geschäft quasi nebenbei betreibt und von Immobilien keine grosse Ahnung hat. Solche Gemeinschaften verfügen meistens nicht über eine vorausschauende Finanz- und Objektplanung.
Die Finanzplanung muss schon am ersten Tag beginnen.
Zu welchem Zeitpunkt sollen sich die Gemeinschaften Gedanken über künftige Erneuerungskosten machen?
Walter Hochreutener: Optimal wäre, wenn man schon bei der Errichtung eines Stockwerkeigentums im Sinne einer Empfehlung eine grobe Investitionsplanung entwerfen würde. Die Alfred Müller AG macht dies heute noch nicht; ich könnte mir dies für die Zukunft aber gut vorstellen. Für die Käufer unserer Eigentumswohnungen wäre dies eine wertvolle Dienstleistung.
Stefan Bruni: Ich finde auch, dass die Finanzplanung am ersten Tag beginnen muss. Die Käufer sollten sich bewusst sein, was ein Kauf bedeutet. Mit der «Luzerner Toolbox»* hat die Hochschule Luzern unter anderem ein Instrument entworfen, in dem alle Bauteile mit Kosten hinterlegt sind und das aufzeigt, was wann saniert werden muss. Wenn man die Kostenschätzungen mit den Einzahlungen in den Erneuerungsfonds vergleicht, wird sichtbar, ob es Finanzierungslücken gibt, wie gross diese sind und zu welchem Zeitpunkt sie entstehen. Nutzen Gemeinschaften dieses Instrument frühzeitig, haben sie genügend Zeit, um ausreichend Einzahlungen in den Erneuerungsfonds vorzunehmen. In der Regel sind die Gemeinschaften aber darauf angewiesen, dass sie von der Verwaltung für das Thema sensibilisiert und richtig beraten werden.
Beat Stocker: Ich würde sogar einen Schritt weitergehen und auch die Unterhaltskosten in die Kalkulation einbeziehen. Basierend auf einer Unterhalts- und Investitionsplanung könnte für ein Objekt eine massgeschneiderte Finanzplanung erstellt werden. Die Einzahlungen in den Erneuerungsfonds könnten auf Basis dieser Finanzplanung ausgerichtet werden.
Warum reicht das Geld aus dem Erneuerungsfonds oft nicht aus, wenn saniert werden muss?
Beat Stocker: Heute wird oft Geld für Unterhaltsarbeiten aus dem Fonds entnommen, obwohl es nicht dafür vorgesehen ist. Stehen grössere Investitionen an, fehlt dann dieses Geld.
Stefan Bruni: Ja, das stimmt. In unseren Studien haben wir gesehen, dass der Erneuerungsfonds oft stark für die Bezah- lung von Unterhaltsarbeiten verwendet wird. Zudem wird die Dotierung des Erneuerungsfonds im Vergleich zu den anstehenden Erneuerungskosten meist überschätzt.
Walter Hochreutener: Es gibt Verwaltungen, die dieses Vorgehen unterstützen. Auch wir haben früher manchmal dazu Hand geboten. Seit einigen Jahren setzen sich unsere Immobilienbewirtschafter aber dafür ein, dass für kleine Unterhalts- arbeiten kein Geld aus dem Fonds verwendet und dass der Fonds nicht nur minimal geäufnet wird.
Wie viel Geld sollte denn in den Erneuerungsfonds einbezahlt werden?
Stefan Bruni: Unserer Meinung wäre es optimal, wenn jährlich 1,0 Prozent des Gebäudeversicherungswertes einbezahlt würde, auch 0,8 Prozent sind gut. Unsere Studien zeigen aber, dass die Einzahlungen in den Fonds im Durchschnitt bei zirka 0,25 Prozent liegen, was viel zu wenig ist.
Walter Hochreutener: Wir empfehlen unseren Gemeinschaften, 0,5 Prozent des Gebäudeversicherungswertes in den Fonds einzuzahlen, und schreiben diesen Wert auch so im Reglement fest. Jedoch steht es jeder Gemeinschaft frei, das Reglement anzupassen. Es ist eine Illusion, zu glauben, dass das Reglement alle Herausforderungen lösen kann. Der Erneuerungsfonds ist nicht gesetzlich vorgeschrieben.
Wie berät die Alfred Müller AG die Stockwerkeigentümergemeinschaften, wenn es um die Erneuerung geht?
Walter Hochreutener: Wir versuchen, den Gemeinschaften rechtzeitig aufzuzeigen, welche Kosten im Unterhalt und in der Erneuerung in den nächsten Jahren auf sie zukommen werden. Wenn Gebäude etwas älter werden, empfehlen wir den Gemeinschaften, eine Gebäudeanalyse in Auftrag zu geben, welche den Zustand der Bauteile und nötige Erneuerungsmassnahmen aufzeigt. Auf dieser Basis können die Gemeinschaften das weitere Vorgehen planen.
Manche Gemeinschaften folgen unserem Rat, andere nicht.
Was können die Gemeinschaften machen, wenn sich einen Erneuerung ihrer Liegenschaft nicht mehr lohnt?
Stefan Bruni: Sie sprechen den Ersatzneubau an. Als wir unsere Toolbox entwickelten, haben wir in der ganzen Schweiz nach einem Beispiel dafür gesucht. Wir konnten kein einziges finden. Aufgrund des zunehmenden Alters der Stockwerk- Liegenschaften wird das Thema in den nächsten Jahren aber unweigerlich auf uns zukommen. Leider besteht eine Lücke in der Gesetzgebung betreffend Regelung des Ersatzneubaus im Stockwerkeigentum.
Beat Stocker: Wir haben kürzlich einen solchen Fall durchgespielt, ihn aber noch nicht ausgeführt. Aus unserer Sicht wäre ein Ersatzneubau auch beim Stockwerk möglich: Eine Gemeinschaft könnte bei uns eine Machbarkeitsstudie in Auftrag geben. Wir würden ihr die baulichen Möglichkeiten, den Landwert und die Projektkosten aufzeigen. Jeder Eigentümer könnte auf dieser Basis entscheiden, ob er oder sie sich auszahlen lassen oder im Neubau wieder eine oder mehrere Wohnungen erwerben möchte, wobei der Wert des bestehenden Eigentums angerechnet würde.
Walter Hochreutener: Die Herausforderung besteht darin, alle Eigentümer von einem solchen Projekt zu überzeugen. Denn im Normalfall braucht es dafür Einstimmigkeit. Nur wenn eine Liegenschaft aufgrund eines Ereignisses stark beschädigt ist oder wenn wegen Verslumung ihre Gebrauchsfähigkeit gefährdet ist, kann davon abgewichen werden.
Beat Stocker: Dass die Gemeinschaften den Ersatzneubau oft nicht in Betracht ziehen, könnte daran liegen, dass sie das Potenzial des Grundstücks nicht erkennen. Wenn ihre Liegenschaft ins Alter kommt, ziehen sie einen Umbauspezialisten bei, der ihnen die Option Ersatzneubau gar nicht vorschlägt. So verschenken sie unter Umständen Potenzial beziehungsweise einen grossen Mehrwert.
Die Hochschule Luzern hat eine Toolbox für die Entwicklung von Langzeitstrategien im Stockwerkeigentum entwickelt. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
Stefan Bruni: Zwei Instrumente werden von den Verwaltungen besonders stark angewendet: Das Tool zur Kommunikation und zum Konfliktmanagement sowie das bereits erwähnte Tool zur Erneuerungsplanung, bei dem die Baukostengruppen-Analyse mit dem Erneuerungsfonds verbunden wird. Das zweite Instrument finden die befragten Verwaltungen nützlich, aber zu kompliziert. Deshalb sind wir nun daran, es zu vereinfachen.
*Luzerner Toolbox für die Entwicklung von Langzeitstrategien im Stockwerkeigentum. Autoren: Amelie-Theres Mayer, Stefan Haase; Herausgeber: Hochschule Luzern, Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur (CCTP), Institut für Betriebs-und Regionalökonomie (IBR) und Institut für Soziokulturelle Entwicklung (ISE); Seiten: 144 Seiten; Format in cm: 14,8 × 21,0; ISBN: 978-3-7281-3739-5; Sprache: Deutsch